Zusammenfassung: Die Pathogenese des akuten Hörsturzes ist nicht geklärt, und Spontanheilungen sind häufig. Wegen einer postulierten Störung der Innenohrdurchblutung wird in Leitlinien eine medikamentöse, rheologische Intervention empfohlen. Klare Belege für die Wirksamkeit dieser Therapie werden jedoch nicht genannt. Aufgrund dieser unklaren Situation wurde von einer Arbeitsgruppe eine systematische Literaturrecherche mit der Frage durchgeführt, ob bei Patienten mit idiopathischem Hörsturz eine rheologische Infusionstherapie im Vergleich zu einem wirkungslosen Scheinmedikament zu einer höheren Remissionsrate und/oder einer deutlicheren Besserung der Symptome führt (13). Es wurden vier als plazebokontrolliert deklarierte randomisierte Interventionsstudien gefunden. Zwei der Studien konnten vor allem wegen zu geringer Fallzahlen und auch wegen anderer methodischer Mängel nicht zur Beurteilung der Wirksamkeit der zu prüfenden Therapie herangezogen werden. Die Ergebnisse der zwei größeren, methodisch höherwertigen Studien zeigen, daß Infusionstherapien mit Natriumchlorid plus Pentoxifyllin, niedermolekularem Dextran plus Pentoxifyllin bzw. mittelmolekularem HES plus Pentoxifyllin hinsichtlich der Remission des Hörverlustes einer Infusionstherapie mit physiologischer Kochsalzlösung nicht überlegen sind. Somit ist derzeit beim Hörsturz eine pharmakologische rheologische Intervention ohne nachgewiesene spezifische Wirkung. Demgegenüber ist diese Therapie mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) verbunden.
Einleitung: Der Hörsturz ist definiert als eine ohne erkennbare Ursache plötzlich auftretende, in der Regel einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit kochleärer Genese unterschiedlichen Schweregrads bis hin zur Ertaubung. Schwindel und/oder Ohrgeräusche sind zusätzlich möglich. Nach einzelnen Literaturberichten liegt die Inzidenz in Deutschland bei 20 Neuerkrankungen/100000 Einwohner/Jahr. Der Altersgipfel liegt um das 50. Lebensjahr (1). Ätiologie und Pathogenese des Hörsturzes sind weitgehend ungeklärt. Es werden verschiedene Pathomechanismen diskutiert, die zu unterschiedlichen Therapieoptionen geführt haben.
Spontanremissionen sind häufig: ohne besondere therapeutische Maßnahmen ist mit einer Vollremisssion je nach Kollektiv bei etwa 50-68% zu rechnen (2, 3); bei ambulanten Patienten fand sich sogar bei 89% eine deutliche Besserung der Symptome (3). An diesen Zahlen müssen die Erfolgsquoten der medikamentösen Therapie gemessen werden, wobei die über die Spontanheilung hinausgehenden Effekte statistisch nur gering sein können. Zum anderen muß bei derart häufigen Spontanremissionen die Häufigkeit und Schwere möglicher UAW dem möglichen zusätzlichen Nutzen gegenübergestellt werden.
Ausgehend von der bisher nicht bewiesenen Annahme, daß dem Hörsturz eine Durchblutungsstörung des Innenohrs zu Grunde liegt, wurden Behandlungsstrategien zur Verbesserung der Blutzirkulation entwickelt. Häufig verwendet werden rheologisch wirksame Infusionen zur Hämodilution mit Plasmaexpandern und/oder vasoaktiven Pharmaka. In der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie zum Hörsturz (1) wird eine rheologische Therapie empfohlen. Aufgrund dieser unklaren Situation wurde von einer Arbeitsgruppe (13) in einem systematischen Review die Frage untersucht, ob bei Patienten mit idiopathischem Hörsturz eine rheologische Infusionstherapie im Vergleich zu einem wirkungslosen Scheinmedikament zu einer höheren Remissionsrate und/oder deutlicheren Symptombesserung führt.
Methoden und Suchstrategie: Es wurde nach randomisierten, kontrollierten Studien sowie nach systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen solcher Studien gesucht, in denen bei erwachsenen Patienten mit Hörsturz der mögliche Nutzen einer intravenösen rheologischen Therapie mit der Gabe von Plazebo verglichen wurde hinsichtlich der Endpunkte Remission des Hörverlustes bzw. Verbesserung des Hörvermögens. Das Suchdatum war Februar 2004.
Da Naftidrofuryl (Dusodril®) wegen immunogener bzw. kardiotoxischer Nebenwirkungen mit tödlichem Ausgang seit 1995 nicht mehr parenteral angewendet werden darf (4), wurden Studien, in denen diese Substanz verwendet wurde, ausgeschlossen.
Zunächst wurde eine Online-Recherche in folgenden Datenbanken durchgeführt: Medline, Embase, Cochrane Database of Systematic Reviews (CDSR), Cochrane Controlled Trials Register (CENTRAL) und Cochrane Health technology database (HTA). Nach folgenden Begriffen wurde je nach Datenbank in verschiedenen Kombinationen als Text- oder Schlagwort gesucht: sudden hearing loss, sudden deafness, sudden sensorineural hearing loss, treatment und therapy. Es wurden deutsch- und englischsprachige Artikel berücksichtigt. Anhand der Literaturverzeichnisse erfolgte eine Nachrecherche der als relevant erachteten Artikel und themenbezogener Übersichtsarbeiten.
Ergebnisse: Es fanden sich vier als plazebokontrolliert deklarierte Studien (5-9), wobei jedoch bei allen in diesen Studien als Plazebo verwendeten Substanzen ein gewisser rheologischer oder hämodilutiver Effekt nicht ausgeschlossen werden kann. Vergleichende Untersuchungen mit einem validen Scheinmedikament oder einer Scheininfusion wurden nicht gefunden. Eine metaanalytische zusammenfassende Auswertung der einzelnen Studien war wegen der Methodik und der Ergebnisse nicht möglich. Daher werden die vier vorliegenden Publikationen im Einzelnen getrennt dargestellt.
1. Plazebokontrollierte Doppeltblindstudie mit einem stabilen Prostazyklinanalogon: In diese doppeltblinde plazebokontrollierte Studie von Michel et al. (5) wurden 22 Patienten mit einseitigem Hörsturz eingeschlossen, der nicht länger als 7 Tage zurücklag und zu einem Hörverlust von mehr als 20 dB in mindestens zwei der Hauptsprachfrequenzen geführt hatte. Nach Randomisierung wurde den Patienten das Prostazyklinanalog Taprosten (25 ng/kg Körpergewicht/Minute) in 25-30 ml physiologischer Kochsalzlösung oder 30 mg (als Plazebo dienendes) Mannitol (ebenfalls in 30 ml physiologischer Kochsalzlösung gelöst) jeweils über 6 Stunden 5 Tage lang infundiert. Das Hörvermögen wurde jeden Tag vor und nach der Behandlung mit Tonschwellenaudiogrammen geprüft. Zwischen der mit Taprosten und der mit „Plazebo” behandelten Gruppe wurde am Ende der fünf Tage kein signifikanter Unterschied im Hörgewinn gefunden. Nebenwirkungen, wie Flush (90% vs. 60%) und Palmarerythem (90% vs. 10%) traten signifikant häufiger in der Taprosten-Gruppe auf. Übelkeit (in 100%), Erbrechen (in 30%) und Abdominalschmerzen (keine Zahlenangabe in der Publikation) wurden nur in der Verum-Gruppe beobachtet.
Die Studie sollte ursprünglich 80 Patienten umfassen. Nach 22 Patienten wurde die Untersuchung jedoch von einem unabhängigen Statistiker nach einer vor Studienbeginn vorgesehenen, verblindeten Zwischenauswertung abgebrochen, da auch mit höheren Patientenzahlen kein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen wäre. Als ein Grund für den Abbruch wurde die unerwartet hohe Spontanremissionsrate in der Plazebo-Gruppe genannt.
Die Autoren urteilen, daß die Fallzahl in dieser Studie nicht ausgereicht hat, die Frage valide beantworten zu können. Zudem ist die Wahl von Mannitol, selbst in geringer Dosierung, als Plazebo fragwürdig. Anhand der Basischarakteristika zeigte sich auch, daß eine Gleichverteilung durch die Randomisierung nicht gelungen war: die Patienten der Verum-Gruppe hatten einen im Mittel um 10 dB schlechteren Ausgangswert des Hörvermögens. Die Ergebnisse dieser Studie können also nicht zur Beurteilung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit dieser rheologischen Therapie herangezogen werden.
2. Kombinationstherapie Procain plus Dextran: In dieser Studie von Kronenberg et al. (6) wurde der Nutzen einer Kombinationstherapie aus Procain (als Vasodilatator) plus Dextran (zur Hämodilution) im Vergleich zu einer Kochsalzinfusion bei 27 Patienten mit Hörsturz untersucht. Die Patienten der Interventionsgruppe (n = 13) erhielten alternierend Infusionen mit 2%igem Procain-Hydrochlorid (in 500 ml 0,9% NaCl) und 500 ml Dextran 40 maximal 3 Wochen lang (insgesamt 24 Infusionen). Die Patienten der Kontroll-Gruppe (n = 14) erhielten Infusionen mit physiologischer Kochsalzlösung. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Infusionen einen gewissen über die reine Plazebowirkung hinausgehenden rheologischen Effekt haben; sie können somit nicht als wirkungslose Scheinbehandlung gelten.
Es zeigte sich kein zusätzlicher Nutzen der Intervention im Vergleich zur Kontrolle. Der mittlere Hörgewinn im Hauptsprachbereich lag mit 11 dB sogar niedriger als in der Kontroll-Gruppe (25 dB). Der Unterschied war statistisch nicht signifikant. Die Ausgangsdaten wurden allerdings nicht mitgeteilt.
Auch in dieser Studie war die Fallzahl zu klein, um valide statistische Ergebnisse zu erhalten. Außerdem war die Verblindung nicht ordnungsgemäß (durch Markierung der Infusionen zum Teil durchschaubar), die Art der Randomisierung ist nicht beschrieben, und Basisdaten wurden nicht angegeben. Somit ist auch nicht zu beurteilen, ob Interventions- und Kontroll-Gruppe initial gleich waren.
3. Kombinationstherapie Hydroxyethylstärke (HES) plus Pentoxifyllin: Zur randomisierten Doppeltblind-Studie von Desloovere et al., in der HES plus Pentoxifyllin gegen Infusionen mit physiologischer Kochsalzlösung getestet wurde, liegen zwei Publikationen vor. In der Veröffentlichung von 1988 (7) werden die Daten der ersten 102 Patienten präsentiert; in der von 1989 (8) die Ergebnisse von insgesamt 150 Patienten. Zusätzlich zum prospektiven randomisierten Studienarm wurde ein Vergleich mit einem retrospektiv ausgewerteten historischen Patientenkollektiv durchgeführt, auf den hier nicht näher eingegangen wird. Die randomisierte Studie erstreckte sich über einen Behandlungszeitraum von 10 Tagen. Während dieser Zeit erhielten die Patienten der Interventionsgruppe täglich eine Infusion mit 500 ml mittelmolekularer HES 200/0,5 (HAES-steril® 10%) mit einer Beimengung von 15 ml Pentoxifyllin (Trental®), die Kontroll-Gruppe je eine Infusion mit 500 ml physiologischer Kochsalzlösung, der 15 ml 0,9%ige NaCl-Lösung als Plazebo hinzugefügt wurde. Verum- und Plazeboinfusionen bzw. die entsprechenden Ampullen waren äußerlich identisch.
Nach Auswertung der Daten von 150 eingeschlossenen Patienten (je 75 in beiden Gruppen) zeigte sich weder bei der absoluten mittleren Hörverbesserung (16,3 dB vs. 13,3 dB) noch beim prozentualen mittleren Hörgewinn in Abhängigkeit vom primären Hörverlust (39,3% vs. 43,2%) ein signifikanter Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontroll-Gruppe. Insgesamt kam es nach 10 Tagen zu einer kompletten Remission bei 51% der Patienten. Auswertungen von Untergruppen, die den Einfluß einzelner Parameter auf das Therapieergebnis untersuchen sollten, können wegen methodischer Mängel (nicht eindeutig prädefiniert, zu kleine Fallzahlen, in den beiden Publikationen nicht übereinstimmende Zahlenangaben) nicht als valide angesehen werden. Angaben zur statistischen Aussagekraft fehlen, und es bleibt unklar, welche Fallzahl ursprünglich angestrebt war.
Die Autoren diskutieren (8), ob eine Infusion mit 500 ml physiologischer Kochsalzlösung als wirkungsloses Scheinmedikament angesehen werden kann, da es Untersuchungen gibt, die einen geringen, aber statistisch signifikanten Effekt auf Hämatokrit und Blutviskosität durch Infusion von 500 ml NaCl-Lösung zeigen (10).
UAW wurden in beiden Publikationen nicht dokumentiert. Allerdings ist bekannt, daß es unter HES zu schwerem persistierenden Juckreiz kommen kann (4, 11, 12).
4. Kombinationstherapie Dextran plus Pentoxifyllin: In der doppeltblinden Untersuchung von Probst et al. (9) wurden von insgesamt 382 eingeschlossenen Patienten (mit Zustand nach Knalltrauma oder idiopathischem Hörsturz) die Daten von 184 Patienten mit Hörsturz ausgewertet. Randomisiert wurden diese Patienten einem von drei Therapiearmen zugeordnet: a) als sogenannte Plazebo-Gruppe: 500 ml 0,9% NaCl i.v. mit Zusatz von NaCl aus Ampullen sowie orale Gabe von Plazebo-Tabletten, b) 500 ml 0,9% NaCl i.v. mit Zusatz von 300 mg Pentoxifyllin und orale Gabe von 400 mg Pentoxifyllin oder c) 500 ml niedermolekulares Dextran 40 i.v. mit Zusatz von 300 mg Pentoxifyllin und orale Gabe von 400 mg Pentoxifyllin. Die Medikamente wurden nach einem festgelegten Therapieschema verabreicht. Primärer Endpunkt war der Hörgewinn eine und vier Wochen nach Therapiebeginn. Das Ausmaß des initialen Hörverlustes unterschied sich nicht zwischen den Gruppen, ebenso die weiteren demographischen Daten der Patienten.
Sowohl nach einer als auch nach vier Wochen ergab sich hinsichtlich des absoluten und auch des relativen Hörgewinns (gemittelt für alle Frequenzen) kein signifikanter Unterschied zwischen den einzelnen Therapiegruppen. Obwohl in dieser Untersuchung keine schwerwiegenden UAW, wie Niereninsuffizienz oder allergische Reaktionen, auf Dextran beobachtet wurden, war die Zahl der UAW in der Gruppe, die mit Dextran plus Pentoxifyllin behandelt wurde, signifikant höher als in der sogenannten Plazebo-Gruppe (p < 0,01 bezogen auf die Gesamtpopulation; keine Angaben von Absolutzahlen).
Eine nachträglich durchgeführte statistische „Power-Berechung” zeigt, daß die Fallzahl in dieser Untersuchung ausgereicht hätte, mit 90%iger Wahrscheinlichkeit eine Differenz im Hörgewinn von 10 dB zwischen den einzelnen Therapiegruppen zu erkennen. Das heißt, daß ein klinisch relevanter Unterschied zwischen den verschiedenen Therapienformen, wenn vorhanden, mit ausreichender Sicherheit hätte erkannt werden können. Die Studie von Probst kann daher als Nachweis angesehen werden, daß die geprüften Therapieoptionen der Infusion von Kochsalzlösung nicht überlegen sind.
Schlußfolgerungen: Nach derzeitiger Datenlage gibt es keinen Beleg dafür, daß eine „rheologische Infusionstherapie” beim Hörsturz die Besserung durch Spontanheilung übertrifft. Vergleichende Untersuchungen mit einem validen, d.h. sicher unwirksamen Scheinmedikament sind nicht veröffentlicht. Die Infusionstherapie mit physiologischer Kochsalzlösung ohne weitere Zusätze ist den Therapieschemen mit NaCl plus Pentoxifyllin, niedermolekularem Dextran plus Pentoxifyllin bzw. mittelmolekularem HES plus Pentoxifyllin hinsichtlich der Remission des Hörverlustes nicht unterlegen. UAW der medikamentösen rheologischen Therapie sind häufig. Diese Therapie ist nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Publikationen beim idiopathischen Hörsturz weder notwendig noch wirtschaftlich.
Literatur
- Leitlinien der Dt. Ges. f. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirugie: Hörsturz www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/hno_ll10.htm (Zugriff am 01.03.2004).
- Weinaug, P.: HNO 2001, 49, 431.
- Weinaug, P.: HNO 1984, 32, 346.
- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Pressedienst 1/95.
- Michel, O., und Matthias, R.: Laryngorhinootologie 1991, 70, 255.
- Kronenberg, J., et al.: Laryngoscope 1992, 102, 65.
- Desloovere, C., et al.: HNO 1988, 36, 417.
- Desloovere, C., et al.: Acta Oto-Rhino-Laryngologica Belgica 1989, 43, 31.
- Probst, R., et al.: Acta Otolaryngol. 1992, 112, 435.
- Ehrly, A.M., et al.: VASA 1987, 16, 103.
- Arzeimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Deutsches Ärzteblatt 1995, 92, B-1044.
- Arzeimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Hydroxyethylstärke (HES) – Juckreiz. Deutsches Ärzteblatt 2000, 97, B-2452.
- Florack, C.1, Kaiser, T.1,2, Franz, H.2, Bausch, J.3, Sawicki, P.T.1,2: (1: DIeM – Institut für evidenzbasierte Medizin, Köln; 2: Arbeitsgruppe praktische evidenzbasierte Medizin, St. Franziskus Hospital, Köln; 3: KV-Hessen, Frankfurt/Main.