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Neues onkologisches Arzneimittel: Regorafenib (Stivarga®)

Patienten mit metastasiertem kolorektalem Karzinom haben unbehandelt eine mediane Lebenserwartung von etwa sechs Monaten (1). Mit Ausnahme der relativ wenigen Patienten, bei denen eine Resektion der Metastasen möglich ist, gilt in dieser Situation eine systemische Chemotherapie als Standardbehandlung. Durch unterschiedliche Therapieschemata, in denen Fluoropyrimidine (5-Fluorouracil, Capecitabin) kombiniert oder sequenziell mit Oxaliplatin und Irinotecan gegeben werden, kann das Gesamtüberleben auf ca. 20-24 Monate verlängert werden (2). Eingesetzt werden auch monoklonale Antikörper: Bevacizumab, der den Gefäßwachstumsfaktor bindet (Vascular Endothelial Growth Factor = VEGF), Cetuximab und Panitumumab bei Karzinomen mit Ras-Wildtyp-Status (K-Ras und N-Ras), die sich gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor richten (Epidermal Growth Factor Receptor = EGFR), sowie das rekombinante Fusionsprotein Aflibercept aus der Gruppe der VEGF-Inhibitoren (2, 3). Für Patienten, deren Erkrankung während oder nach der Gabe dieser Standardtherapien fortschreitet, hat die European Medicines Agency (EMA) im August 2013 Regorafenib (Stivarga®) zugelassen (3).

Regorafenib, ein fluorierter Abkömmling von Sorafenib, blockiert verschiedene Proteinkinasen, die von Bedeutung sind für Tumorangiogenese (VEGFR, Tie2), Onkogenese (KIT, RET, RAF-1, BRAF, BRAFV600E) und Mikroumgebung des Tumors (PDGFR, FGFR; 3-6). Laut Fachinformation ist Stivarga® angezeigt zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit metastasiertem Kolorektalkarzinom, die zuvor mit verfügbaren Therapien behandelt wurden oder die für diese nicht geeignet sind. Diese „verfügbaren“ Therapien umfassen Fluoropyrimidin-basierte Chemotherapie, eine Anti-VEGF-Therapie und eine Anti-EGFR-Therapie (4).

Die Zulassung basiert auf einer multinational, randomisiert (2:1), plazebokontrolliert und doppelblind durchgeführten Phase-III-Studie (CORRECT), in der 760 Patienten behandelt wurden entweder mit Regorafenib (n = 505) plus „Best Supportive Care“ (BSC) oder mit Plazebo plus BSC (n = 255) (3, 7). Der pharmazeutische Unternehmer (pU), Bayer HealthCare, sponserte die Studie und war auch beteiligt am Design des Protokolls, der Interpretation der Ergebnisse und der Erstellung des Manuskripts (7). Regorafenib wurde oral in einer Dosierung von 160 mg/d über die ersten drei Wochen eines jeweils vierwöchigen Zyklus gegeben. Das mediane Alter der Patienten betrug in beiden Gruppen 61 Jahre und lag damit deutlich unter dem mittleren Erkrankungsalter (69 Jahre) für das vorbehandelte metastasierte kolorektale Karzinom (8). Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie war ein guter Allgemeinzustand (ECOG 0-1) – 54% der eingeschlossenen Patienten waren asymptomatisch und in uneingeschränktem Allgemeinzustand (ECOG 0). Die Patienten hatten durchschnittlich drei Vortherapien erhalten, wobei sich diese Therapien aufgrund der Teilnahme von 114 Zentren in 16 Ländern deutlich unterschieden. Alle hatten den Angiogenesehemmer Bevacizumab erhalten. Histologisch hatten fast alle Patienten ein Adenokarzinom (98% bzw. 96%). In der Regorafenib-Gruppe war bei weniger Patienten eine K-Ras Mutation nachweisbar als in der Plazebo-Gruppe (54% vs. 62%). Die durchschnittliche Behandlungsdauer betrug 2,8 Monate in der Regorafenib- und 1,8 Monate in der Plazebo-Gruppe (3, 7).

Primärer Endpunkt der Studie war das Gesamtüberleben (Overall survival = OS). Zu den sekundären Endpunkten gehörte das progressionsfreie Überleben (Progression free survival = PFS). Dies wurde allerdings nicht, wie heute allgemein üblich, von unabhängigen Untersuchern geprüft. Als tertiärer Endpunkt wurde u.a. die gesundheitsbezogene Lebensqualität untersucht, zu der Daten mit zwei Fragebögen der „European Organisation for Research and Treatment of Cancer“ (EORTC QLQ-C30, EQ-5D) erhoben wurden.

Nach einer geplanten Zwischenanalyse zur Wirksamkeit wurde die Studie vorzeitig entblindet. Die Intention-to-treat-Analyse zeigte eine geringe Verlängerung des medianen OS um 45 Tage von im Median 151 Tagen unter Plazebo auf 196 Tage unter Regorafenib, die statistisch signifikant war (Hazard ratio = HR: 0,77; Konfidenzintervall = CI: 0,64-0,94; p = 0,0052). Das mediane PFS war ebenfalls statistisch signifikant um allerdings nur 7 Tage verlängert (52 vs. 59 Tage; HR: 0,49; CI: 0,42-0,58; p < 0,0001; 3, 7). Die objektive Ansprechrate, ebenfalls ein sekundärer Endpunkt der Studie, war mit 1% im Arm Regorafenib plus BSC und mit 0,4% im Arm Plazebo plus BSC sehr niedrig (7). Die Daten zur Lebensqualität waren wenig aussagekräftig, da zum Ende der Behandlung nur für einen geringen Teil der Patienten (54%) Angaben vorlagen (9) und Daten zu den "patient reported outcomes" fehlten. Die Auswertung der EORTC-Fragebögen ergab eine Verschlechterung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität von ähnlichem Ausmaß in beiden Therapiearmen (9).

Insgesamt hatten 93% der Patienten in der Regorafenib- (465/500) und 61% in der Plazebo-Gruppe (154/253) Therapie-assoziierte Nebenwirkungen, die bei 54% der Patienten unter Regorafenib (270/500) und 14% unter Plazebo (35/253) schwer waren (Grad 3 und 4). Bei fast der Hälfte der Patienten in der Regorafenib-Gruppe traten das Hand-Fuß-Syndrom und Müdigkeit (Fatigue) auf. Weitere häufige Nebenwirkungen unter Regorafenib waren Durchfall, Gewichtsabnahme, Infektion, Hypertonie und Dysphonie. Als schwerwiegende Nebenwirkungen wurden außerdem Lebertoxizität, Blutungen sowie gastrointestinale Perforationen beobachtet (3, 4, 7). Wechselwirkungen von Regorafenib mit anderen Arzneimitteln sind beschrieben: der Wirkstoff wird von Zytochrom CYP3A4 und Uridinphosphat-Glucuronosyltransferase UGT1A9 metabolisiert, so dass u.a. die gleichzeitige Anwendung von starken Inhibitoren der CYP3A4-Aktivität, wie z.B. Clarithromycin, Grapefruitsaft und Itraconazol, sowie dem CYP3A4-Induktor Rifampicin zu vermeiden ist (für Details s. 4, 6).

Der gemeinsame Bundesausschuss hat in seinem Beschluss vom 20.3.2014 für Regorafenib im Vergleich zu BSC einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen festgestellt, wie bereits berichtet (vgl. 10, 11). Für die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (12), andere unabhängige Arzneimittel-Bulletins (5) und das Ludwig Boltzmann Institut in Österreich (8) ist der Zusatznutzen von Regorafenib in der oben genannten Indikation jedoch nicht überzeugend belegt – vor allem angesichts der Toxizität und geringen Effektstärken bei der Wirksamkeit (z.B. OS, PFS), die aktuelle Anforderungen an patientenrelevante Endpunkte in onkologischen Studien nicht erfüllen (1). Die Jahrestherapiekosten pro Patient betragen für Regorafenib 68.915,21 €; für BSC sind sie patientenindividuell unterschiedlich (11).

In einer offensichtlich dem Marketing dienenden Beilage zum Deutschen Ärzteblatt (!) unter der Überschrift „Kongress aktuell“ (13) postuliert Bayer HealthCare, dass der „Multikinase-Inhibitor“ Regorafenib bei Patienten mit metastasiertem kolorektalem Karzinom, die unter den zugelassenen Standardtherapien progredient waren, jetzt diese Therapielücke schließt und den Patienten einen signifikanten Überlebensvorteil bietet. Diese Aussage wird durch die Ergebnisse der CORRECT-Studie aus unserer Sicht keineswegs belegt. Außerdem ist der Wirkungsmechanismus von Regorafenib bei fortgeschrittenen, metastasierten kolorektalen Karzinomen unbekannt (7). Auch ist nicht klar, ob durch die Hemmung der oben genannten Proteinkinasen tatsächlich ein therapeutischer Fortschritt erreicht werden kann – insbesondere angesichts der heute bekannten genetischen Komplexität bei fortgeschrittenen Stadien dieser Tumorerkrankung mit einer Vielzahl von Mutationen und gestörten intrazellulären Signalwegen (14).

Fazit: Bei vorbehandelten Patienten mit metastasiertem kolorektalem Karzinom in gutem Allgemeinzustand verlängerte Regorafenib im Vergleich zu Plazebo in einer Phase-III-Studie das Gesamtüberleben um nur ca. 6 Wochen. Bei ungefähr der Hälfte der Patienten traten schwere Nebenwirkungen auf. Wirksamkeit und Toxizität von Regorafenib müssen deshalb in den laufenden (Phase-III-) Studien (8) ebenso wie die „patient reported outcomes“ weiter untersucht werden. Diese Studien sollten auch versuchen, anhand von Biomarkern (genetische Veränderungen in Tumorzellen) Patienten zu identifizieren, die auf Regorafenib in klinisch relevantem Ausmaß ansprechen. Solange diese Ergebnisse nicht vorliegen, ist „Best Supportive Care“ eine geeignete Alternative für intensiv vorbehandelte Patienten. Einer individuellen Entscheidung für eine Therapie mit Regorafenib muss eine gründliche Aufklärung der Patienten über die geringe Wirksamkeit bei erheblicher Toxizität vorausgehen.

Literatur

  1. Ellis,L.M., et al.: J. Clin. Oncol. 2014, 32, 1277. Link zur Quelle
  2. NationalComprehensive Cancer Network. NCCN Guidelines Version 3.2013, Colon cancer; http://www.nccn.orgLink zur Quelle
  3. http://www.ema.europa.eu/docs/…Link zur Quelle
  4. Bayer Pharma AG:Fachinformation Stivarga® 40 mg Filmtabletten. Stand August 2013.
  5. Prescrire International2014, 23, 10.
  6. Neue Arzneimittel: Stivarga®(Regorafenib). Link zur Quelle
  7. Grothey, A., et al.(CORRECT): Lancet 2013, 381, 303. Link zur Quelle
  8. Rothschedl, E., und Nachtnebel, A.(2013). DSD:Horizon Scanning in Oncology 40. http://eprints.hta.lbg.ac.at/1011/ Link zur Quelle
  9. https://www.g-ba.de/… Link zur Quelle
  10. AMB 2014, 48, 38b. Link zur Quelle
  11. https://www.g-ba.de/downloads/ 39-261-1948/ 2014-03-20_AM-RL-XII_Regorafenib_2013-10-01-D-077_BAnz.pdfLink zur Quelle
  12. http://www.akdae.de/ Stellungnahmen/AMNOG/A-Z/ Regorafenib/Regorafenib.pdfLink zur Quelle
  13. Sonderproduktion vonDeutscher-Ärzte-Verlag im Auftrag von Bayer HealthCare: KONGRESS aktuell5/2014.
  14. Vogelstein, B., et al.: Science 2013, 339,1546. Link zur Quelle