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Leserbrief: Tryptophan zur Behandlung von Depressionen?

Fragen von Dr. C.B. aus Grebenhain: >> Welchen Stellenwert hat L-Tryptophan in der Behandlung von Depressionen im Vergleich zu den etablierten Substanzen? Gibt es Indikationen für eine Monotherapie (z.B. die Saisonal abhängige Depression)? Gibt es sinnvolle Kombinationen? Welche Kombinationen sind kontraindiziert? Ist es gerechtfertigt, von einer Renaissance des L-Tryptophans zu sprechen? << Antwort: >> Tryptophan ist eine essentielle Aminosäure. Es wird im ZNS zur Synthese der Neurotransmitter Serotonin und Melatonin benötigt. Welche spezifischen Funktionen diese beiden Transmitter haben, ist nicht vollständig geklärt. Serotonerge Bahnen innervieren vor allem limbische Strukturen und die Formatio reticularis, aber auch praktisch alle sonstigen Hirnregionen.

Der tägliche Minimalbedarf an Tryptophan wird mit 250 mg angegeben; die empfohlene Zufuhr mit der Nahrung beträgt 500 mg/d. Tryptophan ist in den meisten Proteinen zu 1-2% enthalten (1). Die durchschnittliche Tageszufuhr bei mitteleuropäischer Mischkost liegt bei 0,5-1,0 g. Etwa 1% des Tryptophans wird in Serotonin umgewandelt (Ausnahme: 60% beim Karzinoid-Syndrom).

Ende der 70er Jahre wurde Tryptophan als Mittel gegen Schlafstörungen und Depressionen propagiert. Die dem Tryptophan gegen beide Störungen zugesprochenen Wirkungen wurden wegen der Verteilung der serotoninergen Bahnen im Gehirn postuliert. Von 1976 bis 1979 erschienen einige kleinere Studien (Fallzahlen von 24-58 Patienten) zur antidepressiven Wirksamkeit. Es wurde entweder ein trizyklisches Antidepressivum mit Tryptophan verglichen (2,3,4) oder ein Antidepressivum plus Tryptophan gegen Tryptophan allein (5). Die Dosierung von Tryptophan lag dabei um 6-8 g/d. Der therapeutische Effekt wurde nach 2-4 Wochen beurteilt. Insgesamt kam man zu dem Schluß, daß Tryptophan bei leichter oder mittelschwerer Depression wirksam sei. In den folgenden Jahren wurde es dann als Medikament eingesetzt und war außerdem in den USA als Nahrungsergänzungsmittel und Sportlernahrung freiverkäuflich auf dem Markt. 1989 wurde eine schwere Nebenwirkung der Produkte erkannt: das Eosinophilie-Myalgie-Syndrom (EMS; s.a. AMB 1992, 26, 63). Weltweit wurden mehr als 1500 Fälle registriert, wobei 38 Patienten daran starben (6). Tryptophan-haltige Präparate wurden daraufhin vom Markt genommen. Ätiologie und Pathomechanismus des EMS ist bis heute nicht vollständig geklärt. Man nimmt an, daß das Syndrom zum einen bei Prädisposition (Faktoren nicht bekannt) auftreten kann und zum anderen, wenn im Präparat bestimmte Reaktionsprodukte des Tryptophans, die bei Herstellung und Lagerung auftreten können, enthalten sind.

In Deutschland ist Tryptophan seit 1996 wieder als Arzneimittel zugelassen. Die pharmazeutische Industrie hat gerichtlich die Wiederzulassung erstritten, im wesentlichen mit der Argumentation, daß das EMS nur nach Einnahme von Tryptophan eines japanischen Herstellers aufgetreten war und daher vermutlich auf Verunreinigungen in dessen Produktion zurückzuführen sei. Diese Argumentation ist jedoch sehr fragwürdig, da es mehrere Fallberichte von EMS nach Einnahme von Tryptophan anderer Hersteller bzw. anderer Produktionswege gibt. Schließlich konnten auch im Tierversuch Symptome des EMS mit Tryptophan-Derivaten und mit nicht verunreinigtem Tryptophan ausgelöst werden (6, 7).

Als Indikationen für die Tryptophaneinnahme werden Schlafstörungen und mittelschwere Depressionen genannt. Derzeit sind in Deutschland drei Präparate auf dem Markt. Die Tabletten enthalten 500 mg. Als Tagesdosen werden bei Schlafstörungen 0,5 bis 1 g, bei Depressionen 1,5 bis 3 g (maximal 6 g) empfohlen. Die Wirkungen von trizyklischen Antidepressiva oder von Lithium können verstärkt werden. Bei Kombination mit MAO-Hemmern oder Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (neue Antidepressiva) kann es zum gefährlichen serotoninergen Syndrom kommen. Zudem interagiert Tryptophan u.a. mit Phenothiazinen, Carbamazepin, Digitoxin und Cumarin-Derivaten mit Wirkungsverstärkung oder -abschwächung (10). Als Kontraindikationen werden schwere Nieren- oder Leberfunktionsstörung sowie das Karzinoid-Syndrom genannt.

Zum Tryptophan liegen nur zwei aktuellere klinische Anwendungsbeobachtungen vor. In einer Untersuchung wurde bei 14 Patienten mit „Seasonal affective disorder”(SAD, sogenannte Winterdepression) und ungenügendem Ansprechen auf die Therapie mit Licht der antidepressive Effekt von Licht plus Tryptophan (Tagesdosis 1-3g) untersucht. Nach zwei Wochen Behandlungsdauer konnte nach dem Zufügen des Tryptophans ein therapeutischer Effekt nachgewiesen werden (8). In der zweiten Untersuchung wurden 13 Patienten mit SAD entweder anfangs zwei Wochen mit Licht, dann vier Wochen mit Tryptophan (4-6 g/d) oder vier Wochen mit Tryptophan, dann zwei Wochen mit Licht behandelt. Der antidepressive Effekt war in beiden Gruppen gleich (9).

Die von den Herstellern angegebenen klinischen Effekte beruhen also auf sehr wenigen Untersuchungen mit jeweils inakzeptabel geringen Fallzahlen und für Depressionserkrankungen außerordentlich kurzen Beobachtungszeiten. Der Wirksamkeitsnachweis von Tryptophan bei Depressionen steht daher auf tönernen Füßen. Da die Entstehung des gefährlichen EMS weiterhin nicht vollständig geklärt ist und dessen Wiederauftreten im Zusammenhang mit einer Einnahme von Tryptophan nicht ausgeschlossen werden kann, ist die Einnahme von Tryptophan außerhalb von seriösen Studien abzulehnen.

Konsequenterweise wird Tryptophan von der Food and Drug Administration in den USA ausschließlich als Zusatz in künstlichen Nahrungsmitteln als essentielle Aminosäure akzeptiert, da deren völliges Fehlen in der Nahrung für Säuglinge und Erwachsene lebensbedrohlich sein kann (6). In Großbritannien darf Tryptophan als Medikament nur mit strengen Auflagen von Psychiatern unter stationären Bedingungen als Kombinationspartner mit anderen Antidepressiva angewendet werden und nur bei Patienten mit schweren therapierefraktären Erkrankungsformen über mindestens 2 Jahre Dauer, quasi als Therapieversuch. Sowohl Patient als auch behandelnder Arzt werden registriert und müssen regelmäßig über den Therapieverlauf schriftlich berichten (11).

Anders ist die Situation in Deutschland: Hier wurden laut Auskunft der Herstellerfirma innerhalb von 18 Monaten nach der juristisch erstrittenen Wiederzulassung von Tryptophan als Arzneimittel bereits wieder mehr als eine Million Tabletten unkontrolliert verordnet (12). Insofern kann man tatsächlich von einer Renaissance der Substanz sprechen – eine Renaissance der Unvernunft. Fairerweise muß angemerkt werden, daß bislang nicht über ein neues Auftreten des EMS berichtet wurde. Die bedeutet natürlich nicht, daß es kein EMS mehr gab, sondern nur, daß es nicht gemeldet oder möglicherweise nicht erkannt wurde.

Fazit: Die Wirkungen von Tryptophan als Pharmakon sind bisher nicht ausreichend belegt. Es existieren nur wenige Untersuchungen mit kleinen Fallzahlen und zu kurzen Beobachtungszeiten. Da Ätiologie und Pathomechanismus des EMS weiterhin nicht vollständig geklärt sind und ein erneutes Auftreten dieses bedrohlichen Syndroms nicht ausgeschlossen werden kann, sollte Tryptophan außerhalb klinischer Studien nicht eingesetzt werden. Darüber hinaus ist Tryptophan ein Paradebeispiel dafür, wie aus einem natürlichen essentiellen Nahrungsbestandteil bei industrieller Herstellung und Beimischung „unnatürlicher”chemischer Reaktionsprodukte und bei hoher Dosierung ein potentiell lebensbedrohliches „Arzneimittel”werden kann. <<

Literatur

1. Buddecke, E.: Grundriß der Biochemie. Walter de Gruyter, Berlin, New York, 1980, 6. Aufl., S. 85.
2. Lindberg, D., et al.: Acta Psychiatr. Scand. 1979, 60, 287.
3. Chouinard, G., et al.: Acta Psychiatr. Scand. 1979, 59, 395.
4. Walinder, J., et al.: Arch. Gen. Psychiatry 1976, 33, 1384.
5. Herrington, R.N., et al.: Psychol. Med. 1976, 6, 673.
6. U.S. Food and Drug Administration, Mai 1996: What information is known about the availability of L-tryptophan? http://www.cfsan.fda.gov/
7. Silver, R.M., et al.: J. Clin.Invest. 1994, 93, 1473.
8. Lam, R.W., et al.: Can. J. Psychiatry 1997, 42, 303.
9. Smith, R.M.: Efficacy of light vs tryptophan in seasonal affective disorder. Online coverage. 149th Annual Meeting of the American Psychiatric Association. New York, 5.-8. Mai 1996.
10. Stockley, I.H.: Drug Interactions. PhP London 1999, 5. Aufl., S. 381, 610, 739, 832.
11. British National Formulary 38. BMJ Books, London 1999, S.188.
12. Ärzte Zeitung Juli 1997: „Es ist wichtig, daß L-Tryptophan wieder da ist.”