1989 forderte der französische Präsident François Mitterand eine Agentur im Rahmen der Europäischen Union, die verläßliche und vergleichbare Informationen zum Thema Drogen, Drogenabhängigkeit und ihre Folgen sammelt, analysiert und veröffentlicht. 1993 nahm die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) in Lissabon mit ca. 50 Mitarbeitern ihren Betrieb auf (1). Die EBDD erhält die notwendigen Informationen von den lokalen Partnern in jedem Land; diese bilden das sogenannte REITOX-Netzwerk. In Deutschland hat diese Funktion die Deutsche Referenzstelle für die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD; 2). Die DBDD handelt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und ist ein Gemeinschaftsunternehmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln, der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) in Hamm und dem Institut für Therapieforschung (IFT) in München. Die BZgA ist zuständig für den Aspekt Primärprävention und die DHS für Informationen über Behandlung und Sekundärprävention von Suchterkrankungen. Das IFT hat die Geschäftsleitung und zeichnet verantwortlich für epidemiologische Fragen und Harmonisierung der Methodik des Datenvergleichs zwischen den EU-Ländern.
Die Quellen von Informationen über Art und Häufigkeit einzelner Drogen und Rahmenbedingungen des Drogenkonsums sind überwiegend ambulante Einrichtungen, z.B. Drogenberatungsstellen. Die erhobenen Daten sollen in Zukunft nach einem europäischen Standard weiterverarbeitet werden und dienen dann als Indikator für den Stand der Drogenprobleme in den jeweiligen EU-Mitgliedsländern. Darüber hinaus erlaubt das Datenmaterial in Kombination mit anderen Erhebungsverfahren (z.B. Bevölkerungsumfragen, Rauschgiftjahresbericht des Bundeskriminalamts, Vor-Ort-Drug-Checking) ein Frühwarnsystem zu betreiben, das zügig Auskunft geben kann über die Konsummuster neuer und eingeführter Substanzen, die Charakteristika der Klienten sowie den Zeitverlauf (3).
Unabhängig von diesen neuen Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene wurde schon 1976 das „Frühwarnsystem Sucht“ (FWS) von Prof. Dr. Keup in Berlin ins Leben gerufen. Dieses FWS verfügt gegenwärtig über eine einmalige Datenbank von ungefähr 15000 Suchtkranken über diesen Zeitraum. Jährlich wurden 700-900 stationär behandelte Suchtpatienten aus 22 Kliniken im Bundesgebiet von speziell ausgebildeten Interviewern nach den mißbrauchten Präparaten und Substanzen befragt. Die standardisierten Fragebögen werden in der Zentrale des FWS in Pöcking (Bayern) statistisch ausgewertet. In dieser jetzt 25jährigen Longitudinalstudie sind nahezu alle in der Bundesrepublik Deutschland relevanten Substanzen mit Mißbrauchspotential erfaßt. Umgekehrt kann man sagen, daß ein Stoff, der in dieser Datenbank nicht auftaucht, mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Mißbrauchspotential besitzt oder gerade neu „auf dem Markt“ ist. Die Ergebnisse der Untersuchungen gingen bisher regelmäßig dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, den Arzneimittelkommissionen der deutschen Ärzte- und Apothekerschaft, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln und dem Bundeskriminalamt zu (4). Aber auch Juristen, Medizinern und Behörden, die mit der Suchtproblematik befaßt sind, ist es möglich, die Berichte anzufordern. Durch seine Methodik ist das FWS in der Lage, zu folgenden Punkten relevante Informationen zu geben:
· Anzeige neuer Substanzen mit Mißbrauchspotential
· Klärung der Frage, ob eine Substanz oder ein Medikament Mißbrauchspotential besitzt
· Prognosen über den Mißbrauch eines bekannten Suchtstoffes
· Angaben über die in der Szene übliche Dosierung, Zubereitung und Wirkung auch seltener Suchtstoffe
Einige historische Erfolge schreibt sich das FWS auf seine Fahnen: die Einführung der Rezeptpflicht von Ephedrin (bis 1985 frei verkäuflich und häufig mißbraucht) und die Rücknahme vom Markt 1986 durch den Hersteller. Das FWS hat Anteil an den besseren Kontrollen bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie auch einen wichtigen Anteil am Nachweis des Suchtpotentials von Benzodiazepinen gehabt. In vielen Fällen wurde die sedierende Wirkung von Medikamenten durch das FWS aufgespürt, z.B. bei Antihistaminika. Daten des FWS dienten dazu zu zeigen, daß Tilidin (Valoron) durch Beimischen von Naloxon (Valoron N) zur Substitution bei Suchtkranken ungeeignet ist und somit nicht mehr der BtmVV unterliegen muß. Das FWS dokumentierte die zunehmende Prävalenz der Abhängigkeit von Buprenorphin (Temgesic), das schließlich unter die BtmVV gestellt wurde. Die opioide Wirkung von Codein und Dihydrocodein bei Überschreiten der antitussiven Wirkung konnte quantitativ belegt werden. Aber auch „Kolibris“, wie z.B. das Mißbrauchspotential von Loperamid (Imodium u.a.), konnten nachgewiesen werden.
Dem FWS liegen auch umfangreiche Daten über pflanzliche Drogen, wie Engelstrompete, Stechapfel, Tollkirsche, Bilsenkraut, Fliegenpilz, Magic Mushrooms, ja sogar Muskatnuß vor. In den Jahresberichten finden sich Fakten über Einstiegsalter, Mißbrauchsmuster etc. der neuen Designerdrogen und von Heroin, Kokain, Cannabis sowie auch über die älteren „Genußmittel“ Alkohol und Tabak.
Leider mußte das FWS seit Mitte des Jahres 2001 bis auf weiteres seine Arbeit einstellen, da die zuständigen öffentlichen Stellen bisher nicht mehr bereit sind, die weitere Finanzierung zu sichern. Die AkdÄ hat sich mit Anträgen und Vorschlägen sehr bemüht, diesen skandalösen Vorgang abzuwehren und das System zu retten. Eine weitere Erhebung, Auswertung und Verbreitung der Daten ist damit nicht mehr möglich. So umfangreich der Nutzen dieses FWS ist, so einfach und kostengünstig ist sein Prinzip. Das FWS kostet ca. 250000 Euro im Jahr; sein Nutzen war für viele weitaus größer.
Literatur
- http://www.emcdda.org
- http://www.dbdd.de
- http://www.dbdd.de/Download/WSFruehwarnsystem.pdf
- Keup, W.: Erfolge – Ergebnisse – Erlebnisse im Frühwarnsystem Sucht. Mißbrauchsmuster 1976-2000. Eigenverlag 2001.