In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Frauen wegen drohendem Abort etc. in der Schwangerschaft mit dem ersten synthetischen Östrogen, Diethylstilbestrol (DES), behandelt. Später stellte sich heraus, daß Töchter der so behandelten Frauen ein stark erhöhtes Risiko hatten, in jungen Jahren an einem Scheiden- oder klarzelligen Zervix-Karzinom zu erkranken. DES wurde daraufhin vom Markt genommen. Auch wurden bei den Töchtern Fehlbildungen des Reproduktionstrakts beobachtet sowie bei den Söhnen gehäuft Kryptorchismus, Testes-Hypoplasie, Mikrophallus und Hypospadie.
Eine holländische Forschergruppe (Klip, H., et al.: Lancet 2002, 359, 1102) stellte nun im Rahmen einer Kohortenstudie (OMEGA) bei einer umfangreichen Untersuchung der Enkelgeneration fest, daß 4 Söhne von 205 in utero DES-exponierten Müttern (also Enkel der Frauen, die DES eingenommen hatten) Hypospadien, in 3 Fällen schweren Grades, aufwiesen, während dies nur bei 8 von 8729 Söhnen in utero nicht DES-exponierter Mütter der Fall war. Hierunter war nur ein hochgradiger (penoscrotaler) Fall. Das Relative Risiko in der DES-Gruppe betrug 21,3 (95%-Konfidenz-Intervall: 6,5-70). Der einzige weitere signifikante Unterschied zwischen den beiden Gruppen waren etwas häufigere sehr niedrige Neugeborenengewichte (< 1500 g) in der DES-Gruppe (6,3%) verglichen mit den Kontrollen (2,9%; p = 0,004). Niedriges Geburtsgewicht kann auch mit Hypospadie assoziiert sein, jedoch hatten die 4 Enkel mit Hypospadie in der DES-Gruppe selbst kein sehr auffallend niedriges Geburtsgewicht. Viele der in utero DES-exponierten und nicht exponierten Mütter waren hypofertil und hatten ihre Kinder nach in-vitro-Fertilisation (IVF) bekommen. Es zeigte sich jedoch, daß IVF selbst nicht mit einer erhöhten Hypospadierate bei den neugeborenen Söhnen assoziiert war.
Zwar ist die Zahl der Hypospadien bei den DES-Enkeln klein und das absolute Hypospadie-Risiko relativ gering. Die Ergebnisse lassen allerdings die Interpretation zu, daß DES nicht nur zu Fehlbildungen beim Feten und zu Karzinomen bei den in utero exponierten Frauen führen kann, sondern daß auch transgenerationale Schädigungen möglich sind, die eigentlich nur durch Schäden an den frühen Vorstufen der Keimzellen der in utero DES-exponierten Feten erklärt werden können. Auch wenn der hier berichtete Befund der Bestätigung durch Nachuntersuchungen einer größeren Zahl von Nachkommen in der Schwangerschaft bzw. in utero DES-exponierter Frauen bedarf, weist er auf ein wichtiges Problem hin, nämlich auf die Möglichkeit von Keimbahnschäden bei Feten durch in der Schwangerschaft eingenommene Medikamente.
Dieses Problem wird in einem begleitenden Editorial von Sonia Hernández-Diaz aus Boston, USA, diskutiert (Lancet 2002, 359, 1081). Erwähnt werden hier besonders synthetische Steroide in oralen Kontrazeptiva (die manchmal in der Frühschwangerschaft weiter eingenommen werden) sowie schwache Östrogene in Pestiziden oder Phytoöstrogene in Nahrungsmitteln (z.B. Soja).
Fazit: Die Häufigkeit von Hypospadien scheint bei Enkeln von Frauen, die in der Schwangerschaft mit Diethylstilbestrol (DES) behandelt worden waren, bzw. bei Söhnen von Frauen, die in utero DES-exponiert waren, erhöht zu sein, was auf eine Keimbahnschädigung der Feten durch DES hindeutet (transgenerationaler Effekt).