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Bei Intensiv-Patienten mit Hypoproteinämie ist das „Gesamt-Kortisol” im Serum oft relativ niedrig und das „freie Kortisol” erhöht

Wir haben in letzter Zeit mehrmals über Therapiestudien beim Septischen Schock berichtet (1-3). In unserem zuerst zitierten Artikel vom vergangenen Jahr wurde das Problem der relativen Nebennierenrinden-Insuffizienz beim Septischen Schock und die Indikation zur Therapie mit Hydrokortison abgehandelt.

Die wichtigste Botschaft ergab sich aus prospektiven Studien französischer Autoren (4, 5), die zeigten, daß Patienten mit Septischem Schock und einem stark erhöhten Serum-Kortisolwert > 34 µg/dl und solche mit einem niedrigeren Wert, aber einem Kortisolanstieg um weniger als 9 µg/dl (sog. Non-responder) nach Injektion von synthetischem ACTH (Tetracosactid = Synacthen®) eine schlechtere Überlebensprognose hatten als Patienten, deren Kortisolwert um 9 µg/dl oder mehr nach Injektion von Synacthen® anstieg (sog. Responder). Die Überlebensprognose der Non-responder, nicht aber der Responder, konnte durch eine siebentägige Therapie mit 200 mg Hydrokortison/d signifikant verbessert werden.

Im N. Engl. J. Med. (6) erschien jetzt ein Artikel über die parallele Messung des Gesamtkortisols und des „freien” Kortisols im Serum von Intensivpatienten vor und nach Stimulation mit Synacthen®. Nur knapp ein Drittel der Patienten hatte eine Sepsis, die anderen hatten schwere Herz-Kreislauf- oder pulmonale Erkrankungen oder postoperative Komplikationen. Die wichtigste Botschaft ist nun, daß Intensivpatienten mit erniedrigtem Eiweiß und Albumin im Plasma (Gruppe 1) im Durchschnitt deutlich niedrigere Gesamt-Kortisol-Konzentrationen haben als solche mit annähernd normalen Eiweiß-Werten (Gruppe 2), obwohl ihr „freies” Serum-Kortisol (bei Gesunden ohne Streß ca. 5-10% des Gesamt-Kortisols) im Vergleich mit Gruppe 2 nicht erniedrigt war. Nach Injektion von Synacthen® war bei 14 von 36 Patienten der Gruppe 1 der Kortisolwert kleiner als 18,5 µg/dl, während dies bei keinem der 30 Patienten der Gruppe 2 der Fall war. In beiden Gruppen stieg das „freie” Kortisol im Serum nach Synacthen® annähernd gleich an. Im Vergleich mit nicht gestreßten Normalpersonen waren die Werte des „freien” Kortisols der Intensivpatienten vor und nach Synacthen® in beiden Gruppen 5- bis 10-fach erhöht. Die Letalität der Patienten mit unzureichendem Anstieg des Gesamt-Kortisols nach Synacthen® war nicht deutlich von denen mit „normalem” Anstieg verschieden.

Die Autoren warnen davor, allein aufgrund eines unzureichenden Anstiegs des Gesamt-Kortisols nach Gabe von Synacthen® eine (relative) Nebenniereninsuffizienz bei Intensivpatienten zu diagnostizieren. Das mag richtig sein, jedoch enthält ihre Arbeit einen Pferdefuß: Die Patienten der Gruppe 1 waren im Mittel schon 21 Tage lang im Krankenhaus, die der Gruppe 2 aber nur 6 Tage. Wahrscheinlich war Gruppe 1 auch schon viel länger schwer krank als Gruppe 2. Das wird die Ursache der erniedrigten Plasma-Eiweiß-Werte gewesen sein. In den Studien von Annane et al. (4, 5) wurden die Patienten wenige Stunden nach Diagnose der Sepsis hormonell getestet bzw. randomisiert therapiert. Auch in den Studien von Annane et al. mögen einige Patienten hypoproteinämisch gewesen sein, jedoch hatte dies auf die prospektiv ermittelten Kriterien für die Indikation zur Hydrokortisontherapie keinen Einfluß. Obwohl es später einmal sinnvoll sein kann, Werte des „freien” Kortisols für die Routinediagnostik heranzuziehen (noch steht diese Methode nicht zur Verfügung), sollten die Intensivmediziner jetzt nicht von den Indikationsrichtlinien zur (relativ niedrig dosierten) Hydrokortisontherapie (basierend auf der Messung des Gesamt-Kortisols) bei Intensivpatienten abweichen.

In einem die Arbeit von Hamrahian et al. kommentierenden Editorial (7) empfiehlt L. Loriaux aus Seattle/USA zu Recht, daß eine nicht indizierte Hydrokortisontherapie nahezu aller Intensivpatienten mit hohen Dosen (600 mg/d) wegen der immunsuppressiven und katabolen Effekte des Steroids zu vermeiden sei. Die prospektiv erarbeiteten Behandlungskriterien von Annane und Mitarbeitern hat der Kommentator offenbar noch nicht zur Kenntnis genommen, auch nicht die wesentlich niedrigeren Hydrokortisondosen, die sich in diesen Studien als wirksam erwiesen haben.

Fazit: Bei Intensivpatienten findet sich häufig, besonders nach langem stationärem Aufenthalt, eine Hypoproteinämie mit Hypalbuminämie und erniedrigten Werten des Kortisol-bindenden Globulins (CBG). Dadurch nimmt der prozentuale Anteil des „freien”, d.h. nicht an Protein gebundenen Kortisols zu. Die Messung des Gesamt-Kortisols sowie des Kortisol-Anstiegs im Synacthen®-Test ergibt manchmal relativ niedrige Werte, obwohl das im Körper wirksame freie Hormon als Reaktion auf die schwere Erkrankung adäquat erhöht ist. Da die Messung des „freien” Kortisols im Serum jedoch noch nicht für die klinische Routine zur Verfügung steht, empfehlen wir, nicht von unseren früher gegebenen Empfehlungen zur Indikation der Hydrokortisontherapie abzuweichen (1).

Literatur

  1. AMB 2003, 37, 57.
  2. AMB 2004, 38, 17.
  3. AMB 2004, 38, 19.
  4. Annane, D., et al.: JAMA 2000, 283, 1038.
  5. Annane, D., et al.: JAMA 2002, 288, 862.
  6. Hamrahian, A.H., et al.: N. Engl. J. Med. 2004, 350, 1629.
  7. Loriaux, L.: N. Engl. J. Med. 2004, 350, 1601.