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Medikamentöse Rückfallprophylaxe bei Alkoholkranken?

Die Alkoholkrankheit ist eine komplexe Störung mit vielfältigen biologischen und psychosozialen Faktoren. Deshalb kann eine medikamentöse Rückfallprophylaxe (z.B. mit Acamprosat) nur als Teil eines therapeutischen Gesamtkonzepts gesehen werden. Bei jedem Alkoholkranken sind die individuellen Voraussetzungen zu prüfen, ob eine Therapiestrategie erfolgversprechend ist. Dabei kann der Einsatz von Acamprosat ein Baustein sein, denn die (relativ geringe) Wirksamkeit ist hinreichend gesichert. Auch wegen der hohen Therapiekosten empfiehlt es sich, zunächst die allgemeine Akzeptanz des Alkoholpatienten für eine medikamentöse Langzeitprophylaxe (mindestens für ein halbes Jahr) abzuklären. Die medikamentöse Prophylaxe kann aber nur die Motivation zur Abstinenz unterstützen. Am wichtigsten ist es, den Patienten in psycho- und sozio-therapeutische Maßnahmen einzubinden. Falls eine Behandlung mit Acamprosat in Frage kommt, sollte sie unmittelbar im Anschluß an eine körperliche Alkoholentgiftung (Entzug) begonnen werden. Eine Reduktion der Alkoholmenge oder eine Abstinenz noch trinkender Patienten können nicht erreicht werden.

In Deutschland zählt Alkoholismus zu den häufigsten chronischen Erkrankungen. Schätzungen gehen von etwa 1,6 Millionen Alkoholabhängigen und etwa 2,65 Millionen mit schädlichem Alkoholkonsum aus (1). Sie verursachen hohe Gesundheitskosten durch Folgeerkrankungen/-schäden (Lebererkrankungen, Pankreatitis, Unfälle etc.). Die meisten Alkoholkranken suchen nur ihren Hausarzt auf, vor allem mit Beschwerden, die durch körperliche Folgeerkrankungen des Alkoholismus entstanden sind. Eine suchtspezifische Behandlung, die den komplexen psycho- und soziotherapeutischen Anforderungen der Alkoholkrankheit gerecht wird, findet bei den meisten nicht statt. Bisher galt in Deutschland (im Gegensatz zu vielen anderen Ländern) eine stationäre Langzeitentwöhnung (in den letzten Jahren meist 12-16 Wochen) als die Therapie der Wahl für Alkoholabhängige mit häufigen Rückfällen. Die Rückfallrate im ersten Jahr nach stationären Entwöhnungstherapien beträgt 40-70%, jedoch kann bei den meisten zumindest der Schweregrad der Suchtproblematik verbessert werden.

Lange Zeit gab es in Deutschland nur Disulfiram (Antabus®) als pharmakologischen Ansatz in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit. Dieses Präparat führt zu einer Hemmung der Azetaldehyd-Dehydrogenase, wodurch der Abbau des Alkohols blockiert wird und es zu einer Akkumulation des toxischen Äthanolabbauprodukts Azetaldehyd kommt, wenn erneut Alkohol konsumiert wird. Die Folgen sind dann starke und unangenehme vegetative Beschwerden (Kopfschmerzen, Übelkeit, Hitzewallungen, kollaptische Zustände). Diese aversive Therapie hat sich aber nicht durchgesetzt und wird in ihrer Wirksamkeit kritisch beurteilt (s. Übersicht bei 2).

Seit 1996/1997 ist ein Medikament mit einem anderen Wirkmechanismus auf dem europäischen Markt: Acamprosat (Campral®). Die pharmakologische Wirkung von Acamprosat kommt wahrscheinlich über eine Modulation von NMDA-(N-methyl-D-aspartat)-Rezeptoren zustande. Dadurch kommt es zu einer komplexen Beeinflussung der exzitatorischen glutamatergen Neurotransmission. Der genaue Wirkmechanismus ist nicht völlig geklärt (3). Acamprosat soll eine Unterdrückung des Verlangens nach Alkohol (Craving) bewirken. Dieser Effekt ist jedoch schwer nachzuweisen, da es sich beim Craving um eine situationsabhängige und subjektive Wahrnehmung handelt (4). Klinisches Ziel ist eine Verringerung der Rückfälle bzw. eine Verlängerung der Abstinenzdauer. Dies war auch in den unten genannten Studien das Zielkriterium. Eine eigene psychotrope Wirkung besitzt Acamprosat nicht. Die Tagesdosis beträgt dreimal 2 Tbl. (à 333 mg). Die Bioverfügbarkeit ist durch die ungünstigen Resorptionsbedingungen erschwert, und ein Wirkungseintritt ist erst nach einer Woche zu erwarten. Die Tageskosten betragen bei Gebrauch einer N3-Packung (168 Tbl.) 2,82 EUR.

Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sind nach bisherigen Erkenntnissen: gastrointestinale Störungen (Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, abdominelle Schmerzen), Juckreiz, gelegentlich allergische Reaktionen (makulo-papulöses Erythem), Verwirrtheit, sexuelle Funktions- und Schlafstörungen. Kontraindikationen sind bekannte Überempfindlichkeit, Schwangerschaft, Stillzeit, Niereninsuffizienz (Kreatinin > 120 µmol/l) und Leberinsuffizienz (Child-Pugh-Stadium C).

Studienergebnisse mit Acamprosat: In einer kürzlich erschienenen Metaanalyse (5) konnten von 19 bisher publizierten, randomisierten, plazebokontrollierten Doppeltblind-Studien mit Acamprosat sowie einer noch nicht publizierten Studie 17 mit einer ausreichenden Datenbasis in die Berechnungen einbezogen werden. Die Studien hatten eine unterschiedliche Dauer (2-12 Monate) und schlossen insgesamt 4087 Alkoholkranke ein. 53% von ihnen erhielten Acamprosat. Die berechneten Abstinenzraten (Acamprosat vs. Plazebo) nach 3 Monaten (45,7% vs. 33,7%), 6 Monaten (36,1% vs. 23,4%) und 12 Monaten (27,3% vs. 12,6%) lagen jeweils gering aber signifikant über denen der mit Plazebo Behandelten. Als ein wesentlicher Faktor für die negativen Ergebnisse in zwei publizierten Studien (6, 7) wird angesehen, daß in diesen Studien Acamprosat Alkoholkranken verabreicht wurde, ohne daß vorher eine adäquate körperliche Entgiftung (Entzug) erfolgt war. Nach Abschluß der medikamentösen Behandlung mit Acamprosat war die Rückfallrate nicht erhöht.

Studienergebnisse mit Naltrexon (Nemexin®): In den USA ist ein weiteres Medikament, Naltrexon, ein partieller Opiatantagonist, für die Rückfallprophylaxe bei Alkoholkranken zugelassen, in Deutschland (noch) nicht. Zwei Metaanalysen (8, 9), die die Studien bis 2001 berücksichtigten, wiesen u.a. darauf hin, daß die meisten Studien nur kurz waren (12 Wochen) sowie nur kleine Stichproben und hohe Abbruchraten hatten. Die Rückfallrate nach 3 Monaten konnte mit Naltrexon um 14% (CI: -23% bis -5%) gesenkt werden (9). In einigen Studien wurden auch andere Zielkriterien (verringerter Alkoholholkonsum bzw. verringerte Anzahl von Tagen mit weniger als 5 bzw. 4 Standarddrinks (Männer bzw. Frauen) herangezogen, was eine vergleichende Bewertung erschwert. In 4 von 16 Doppeltblind-Studien mit Naltrexon, darunter eine Studie aus Deutschland (10), konnte keine Überlegenheit gegenüber Plazebo nachgewiesen werden. Auffällig war, daß die begleitende psychotherapeutische und/oder -soziale Therapie, die in einigen Naltrexon-Studien mit untersucht wurde, zum Teil einen deutlichen Effekt auf das Studienergebnis hatte. Eine Studie (11), die anhand einer kleinen Zahl von Patienten (jeweils n = 40 je Gruppe) Acamprosat und Naltrexon bzw. die Kombination aus beiden verglichen hat, kam zu dem Ergebnis, daß Naltrexon dem Acamprosat leicht überlegen ist.

In den Studien zur Rückfallprophylaxe sind Selektionseffekte nicht auszuschließen, denn an den meisten Studien mit Acamprosat bzw. Naltrexon nahm – soweit angegeben – nur ein kleiner Teil der „gescreenten” Alkoholkranken teil. Es ist daher davon auszugehen, daß besonders die Patienten mit einer primär hohen Motivation an den Studien teilnahmen. Trifft diese Vermutung zu, dürfte die Wirksamkeit der Präparate bei allgemeinerer Anwendung wahrscheinlich noch geringer sein.

Praktische Anwendung: Die Zahl der Alkoholkranken, die mit Acamprosat behandelt werden, ist in Deutschland eher gering (12). Die Gründe hierfür sind in erster Linie:

1. Ablehnung von Medikamenten durch den Betroffenen. Viele Alkoholabhängige erleben ihre Symptome als Zeichen ihrer Willensschwäche, der mit psychischer Stärkung und nicht mit Medikamenten begegnet werden muß. Diese Vorstellung ist auch im professionellen Suchthilfesystem weit verbreitet.

2. Die Verordnungsgewohnheiten der behandelnden Ärzte haben aufgrund des Kostendrucks im Gesundheitswesen sich dahingehend verändert, daß Präparate mit geringen Erwartungen an die Wirksamkeit, die hohe Kosten verursachen (Acamprosat), eher nicht verschrieben werden.

3. Geringe Compliance bei Alkoholabhängigen. Die hohen „Drop-out-Raten” in den Studien mit Acamprosat (bis zu 58% innerhalb von 12 Monaten) oder mit Naltrexon (bis zu 58% innerhalb von 12 Wochen) zeigen, daß der medikamentösen Rückfallprophylaxe enge Grenzen gesetzt sind wegen der geringen Bereitschaft der Alkoholkranken, längerfristig Medikamente einzunehmen (vgl. 12).

Bisher liegen kaum Untersuchungen zur Akzeptanz einer medikamentösen Rückfallprophylaxe vor. Eine Studie zeigte, daß nur etwa 55% der befragten Alkoholkranken bereit waren, Medikamente zur Rückfallprophylaxe einzunehmen (12). Die Bereitschaft, Tabletten einzunehmen, war am größten unmittelbar nach dem körperlichen Entzug und bei denen, die häufiges Craving angaben. Meist bestand nur eine Bereitschaft, weniger als 6 Monate lang Medikamente einzunehmen. Die Erfahrung schädlicher Alkoholwirkungen, besonders körperlicher Folgeerkrankungen, förderte die Akzeptanz einer medikamentösen Behandlung nur geringfügig. Auffällig war, daß besonders diejenigen bereit waren, Medikamente zu nehmen, die schon erfolglos viele Anstrengungen unternommen hatten, abstinent zu bleiben.

Bisher hat es kaum Versuche gegeben, Untergruppen von Alkoholkranken zu identifizieren, die besonders von einer medikamentösen Rückfallprophylaxe profitieren. Von Acamprosat profitieren besonders die Alkoholkranken mit ausgeprägter Entzugssymptomatik oder gleichzeitiger Angststörung (Typ I oder II n. Lesch; 13). Dagegen gab es keine Behandlungserfolge bei denen, die schwere neurologische Folgeerkrankungen (z.B. Polyneuropathie) hatten oder Alkohol als „Selbstmedikation” zur Behandlung ihrer depressiven Symptome tranken.

Literatur

  1. Bundesgesundheitsministerium (Hrsg.), Schriftreihe Bd. 128, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2000.
  2. Fuller, R.K., et al.: In: Kranzler, H.R. (Hrsg.): The pharmacology of alcohol abuse. Springer, Berlin 1995. S. 369.
  3. Spanagel, R., et al.: MMW-Fortschr. Med. 2003, 145, 61.
  4. Wetterling, T., et al.: Eur. Addiction Res. 1997, 3, 76.
  5. Mann, K., et al.: Alcohol. Clin. Exp. Res. 2004, 28, 51.
  6. Chick, J., et al. (UKMAS = United Kingdom Multicentre Acamprosate Study): Alcohol Alcohol. 2000, 35, 176.
  7. Namkoong, K., et al.: Alcohol Alcohol. 2003, 38, 135.
  8. Srisurapanont, M., et al.: Cochrane Database Syst. Rev. 2002, CD001867.
  9. Streeton, C., und Whelan, G.: Alcohol Alcohol. 2001, 36, 544.
  10. Gastpar, M., et al.:J. Clin. Psychopharmacol. 2002, 22, 592.
  11. Kiefer, F., et al.: Arch. Gen. Psychiatry 2003, 60, 92.
  12. Wetterling,T., et al.: Pharmacopsychiatry 2001, 34, 142.
  13. Lesch, O.M., et al.: J. Biomed. Sci. 2001, 8, 89.