Ende vergangenen Jahres hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verkündet, dass es soeben die erste EG-konforme Registrierung für ein „traditionelles pflanzliches Arzneimittel” gemäß der wenige Monate zuvor in Kraft getretenen 14. Novelle des Arzneimittelgesetzes verfügt habe. Wenig später wurde bekannt, dass es sich bei dem betroffenen Produkt um „Klosterfrau Melissengeist” handelt – um ein Arzneimittel, das älter ist als die Bundesrepublik Deutschland und damit die gesetzlich geforderte Mindest-Tradition von 30 Jahren erheblich übertrifft.
Dabei bedeutet „Tradition” nicht, dass ein solches Arzneimittel jahrzehntelang nicht verändert worden sein darf – es muss nicht identisch, sondern nur ähnlich geblieben sein. Bei „Klosterfrau Melissengeist” ist der – vermutlich höchst verkaufsrelevante – Handelsname erhalten geblieben. Die im Laufe der Jahrzehnte nach Zahl und Art variablen Deklarationen der Inhaltsstoffe haben offenbar auch die geforderte Ähnlichkeit noch nicht gefährdet. Heute handelt es sich um ätherische Öle aus dreizehn verschiedenen Arznei- und Gewürzpflanzen – von Alantwurzel über die namensgebende Melisse bis zu Zimtblüten – in einem ethanolischen Destillat. Der Alkoholgehalt liegt bei 79 Volumenprozent! Das ist die Tradition.
Entsprechend der Vielzahl der pflanzlichen Bestandteile überdecken die Anwendungsgebiete seit jeher ein weites Feld zentralnervöser, kardiovaskulärer, gastrointestinaler, respiratorischer und anderer Befindensstörungen. In den frühen Jahrzehnten dominierten Indikationsbegriffe, die sich an den Arzt wandten, wie „vegetative Dystonie” und nervöse organbezogene (aber explizit nicht organisch bedingte) Beschwerden, aber auch „Erkältungskrankheiten” u.ä. wurden genannt. Von besonderer Bedeutung war hier die Indikation „Einschlafstörungen” als therapeutische Domäne des hypnotisch wirkenden Hilfsstoffes Ethylalkohol: In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts soll es nicht selten vorgekommen sein, dass einschlafgestörte Patienten über die zunehmend unzureichenden ärztlichen Verordnungsmengen klagten, weil sie zum allabendlichen Einschlafen schließlich eine ganze Flasche des Arzneimittels benötigten.
Heute lautet der einschlägige Anwendungszweck „zur Förderung der Schlafbereitschaft” (wodurch wohl die Erwartung eines hypnotischen Effekts gedämpft werden soll) und wird umrahmt von ähnlichen diffusen Zweckbestimmungen wie „zur Besserung des Allgemeinbefindens” oder „des Befindens bei Unwohlsein”, „als mild wirksames Arzneimittel … bei unkomplizierten Erkältungen”, „bei Wetterfühligkeit” u.a.m. Die Wirksamkeit der ätherischen Öle bei den beanspruchten Zweckbestimmungen ist durch nichts als jahrzehntelange Anwendung begründet. Damit handelt es sich insgesamt um ein „Arzneimittel”, dessen Nutzen (vermutlich) und dessen Risiko (offensichtlich) gleichermaßen durch den Alkohol bestimmt ist. Wem nützt das wirklich?
Sicher ist: Das arzneimittelgesetzliche Risiko ist gering, denn es bemisst sich an der bestimmungsgemäßen Dosierung, die von jeher drei Teelöffel pro Tag beträgt, von denen jeder mit zwei Teelöffeln Wasser zu verdünnen ist. Da inzwischen keine Krankenversicherung mehr für die Kosten von Klosterfrau Melissengeist aufkommt, liegt die Anwendung in der Verantwortung des „Patienten”. Soweit er nicht an die Heilkraft ätherischer Öle glaubt, wäre ihm zur Vermeidung wirtschaftlicher Nachteile gegebenenfalls der Preisvergleich mit vergleichbaren alkoholhaltigen Genussmitteln zu empfehlen.
Die Zulassung als Arzneimittel wurde sicher von der Marketing-Abteilung der Herstellerfirma betrieben, um das Image des Produkts preiswirksam aufzuwerten. Bei Arzneimitteln sind die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitskontrollen bei Herstellung und Vertrieb strenger. Andererseits wird der gute Klang des Wortes „Arzneimittel” kompromittiert, wenn sich mit behördlichem Segen ein bekannter Kräuterschnaps jetzt „Arzneimittel” nennen darf. Warum unterstützt die Behörde diese Metamorphose?