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Wirksamkeit von Grippeimpfstoffen geringer als bisher angenommen

Zusammenfassung: Die bisherigen Grippeschutzimpfungen haben nach einer neuen Metaanalyse von Studien mit strengen Einschlusskriterien eine unzureichende Wirksamkeit. In manchen Jahren scheint sie sogar ganz zu fehlen. Belastbare Daten für die Wirksamkeit bei Menschen ≥ 65 Jahren gibt es bisher nicht. Der beste Impfschutz wurde mit abgeschwächten Lebendimpfstoffen bei Kindern zwischen sechs Monaten und sieben Jahren erreicht. Neue Impfstoffe mit besserer klinischer Wirksamkeit und eine Evaluierung mittels harter Endpunkte sind dringend notwendig, um die bisherigen Impfempfehlungen zu rechtfertigen.

Die Hauptstrategie zu Prävention und Kontrolle der pandemischen und saisonalen Grippe ist seit 50 Jahren die Grippeschutzimpfung (1). 1960 wurde nach der Pandemie von 1957-58, die mit erhöhter Morbidität und Letalität verlief, eine jährliche Grippeimpfung für bestimmte Risikogruppen (Patienten mit chronischen Erkrankungen, Menschen > 65 Jahre und Schwangere) in den USA empfohlen (2). Diese Empfehlung wurde 1964 bekräftigt, ohne dass Daten zur Wirksamkeit dieser Maßnahme vorlagen (3). Aufgrund der langjährigen Praxis, diese Risikogruppen jährlich zu impfen, wurden entsprechende plazebokontrollierte Studien in den letzten 50 Jahren in den USA wegen ethischer Bedenken nicht durchgeführt (4). 2010 wurde die Impfempfehlung in den USA auf alle Menschen älter als sechs Monate erweitert (2). Hierfür werden in den USA vorwiegend trivalente inaktivierte Grippeimpfstoffe (TIV) eingesetzt und damit seit 1978 90% aller Impfungen durchgeführt (5). Seit 2003 sind auch Grippeimpfstoffe mit abgeschwächten lebenden Grippeviren (LAIV) im Gebrauch. Sie werden zurzeit bei ca. 9% aller Impfungen in den USA verwendet. Die Zulassung dieser Lebendimpfstoffe beschränkt sich auf gesunde, nicht-schwangere Menschen zwischen 2-49 Jahren. Bisherige Metaanalysen zur Wirksamkeit von TIV und LAIV haben gering spezifische und gering sensitive Laborparameter als Wirksamkeitsendpunkte definiert. Es hat sich gezeigt, dass z.B. Antikörper-Titer die klinische Wirksamkeit von Grippe-Impfstoffen überschätzen (6).

Jetzt ist eine neue Metaanalyse aus den USA erschienen, in der ausschließlich Studien mit RT-PCR (Reverse-Transcription Polymerase Chain Reaction) oder Anzucht der Viren in Kultur zur Bestätigung einer Influenza-Infektion ausgewertet wurden (7).

Die Autoren dieser Studie sichteten 5.707 Publikationen zur Wirksamkeit von Grippeimpfstoffen zwischen 1967 und 2011. Von diesen erfüllten 31 die strengen Einschlusskriterien und Endpunktdefinitionen (17 randomisierte Studien, 14 Beobachtungsstudien). Die Wirksamkeit von Influenza-Impfstoffen wurde definiert als Reduktion des Infektionsrisikos nach der Impfung im Vergleich zu einer Plazebo-Gruppe (engl. efficacy) oder als Reduktion von Arztbesuchen mit nachgewiesener Influenza-Infektion (RT-PCR oder Anzucht) bei Geimpften im Vergleich zu Ungeimpften in Beobachtungsstudien (Fall-Kontroll- oder Fall-Kohorten-Studien; in diesem Zusammenhang wird im englischen der Begriff „effectiveness” für Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen benutzt). Dabei fanden sich nach Impfung mit TIV während acht von zwölf Impfsaisons bei der Auswertung zehn prospektiver randomisierter kontrollierter Studien Hinweise für eine Wirksamkeit (67%; Risk ratio gepoolt s. Tab. 1) bei Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren. Keine der Studien mit TIV erfüllte die Kriterien in den Altersgruppen 2-17 Jahre oder ≥ 65 Jahre. Hinweise für eine Wirksamkeit von LAIV wurden während neun von zwölf Impfsaisons bei der Auswertung von zehn Studien gefunden und zwar bei Kindern zwischen sechs Monaten und sieben Jahren (s. Tab. 1). Für Kinder zwischen acht und 17 Jahren oder für Erwachsene zwischen 18 und 49 Jahren (der Impfstoff ist für Menschen ≥ 50 Jahre nicht zugelassen!) wurden keine solche Studien gefunden.

Für die Wirksamkeit im realen Leben (engl. effectiveness) wurden Beobachtungsstudien analysiert. Bei saisonaler Grippe waren die Ergebnisse sehr variabel. Sechs von 17 Analysen in neun Studien konnten eine Reduktion von Grippeinfektionen nachweisen. Für den monovalenten H1N1-Impfstoff ergaben sich in fünf Beobachtungsstudien Hinweise auf eine Wirksamkeit im Median von 69% (60-93%).

In der hier referierten Metaanalyse wurden – im Gegensatz zu früheren Studien – sehr strenge Einschlusskriterien und gut definierte virologische Endpunkte verwendet. Sie deckt erhebliche Lücken und Unsicherheiten auf in der Evidenz für den Nutzen der breiten Anwendung von Grippeimpfstoffen. Bisher wurde berichtet, dass die saisonalen Impfstoffe eine Wirksamkeit von 70-90% hätten (4). In dieser neuen, virologische Aspekte genauer analysierenden Metaanalyse zeigt sich jedoch, dass dies nur eingeschränkt, d.h. für Kinder zwischen zwei und sieben Jahren gilt, die einen Lebendimpfstoff erhalten hatten. In den letzten Jahren wurde ausführlich diskutiert, ob durch die Grippeschutzimpfung auch die Letalität reduziert wird. Diese Studie hatte eine solche Analyse nicht zum Ziel. Fünf verschiedene Gruppen aus drei Ländern konnten jedoch nachweisen, dass in früheren Beobachtungsstudien die Reduktion der Letalität bei Patienten > 65 Jahren deutlich überschätzt wurde, weil verschiedene „Confounder” nicht erkannt wurden (8-13). Eine neuere Studie aus Kalifornien, die diese Fehler berücksichtigt, zeigt, dass die Reduktion der Letalität durch die Grippeschutzimpfung bei Patienten > 65 Jahre bei 4,6% (95%-CI: 0,7-8,3) liegt (All-cause mortality, relative Reduktion der Influenza-Todesfälle 47%; 11, 13). Gerade in dieser Altersgruppe, für die die Grippeschutzimpfung besonders empfohlen wird, ist die Datenlage unzureichend.

Selbst im Idealfall, dass nämlich ein einzelner Stamm eines Grippevirus bei den Infektionen vorherrscht, wie H1N1 in der Saison 2009/10, und der Impfstoff genau angepasst wurde, war die Wirksamkeit mit 69% unbefriedigend und nicht ausreichend, um eine wirklich gefährliche Grippe unter Kontrolle zu bringen.

Es müssen Grippeimpfstoffe entwickelt werden, deren Wirksamkeit unter strengen Maßstäben wirklich überzeugt. Außerdem fehlen Studien mit harten Endpunkten, deren Ergebnisse die bisherigen Empfehlungen zur Grippeschutzimpfung rechtfertigen.

Literatur

  1. Davenport, F.M.: JAMA 1962, 182, 11. Link zur Quelle
  2. Burney, L.E.: PublicHealth Rep. 1960, 75, 944. Link zur Quelle
  3. Long, P.H.: Med. Times1964, 92, 1203. Link zur Quelle
  4. Fiore, A.E., et. al.:MMWR Recomm. Rep. 2010, 59,1. Link zur Quelle Errata: MMWR Recomm. Rep. 2010, 59,993 und 2010, 59, 1147.
  5. Influenza vaccine:Recommendations of the Public Health Service Advisory Committee on ImmunizationPractices: Ann. Intern. Med. 1978,89, 657. Link zur Quelle
  6. Petrie, J.C., et. al.: J.Infect. Dis. 2011, 203, 1309. Link zur Quelle
  7. Osterholm, M.T., et. al.:Lancet Infect. Dis. 2012, 12, 36. Link zur Quelle
  8. Campitelli, M.A., et al.:Vaccine 2010, 29, 240. Link zur Quelle
  9. Jackson, M.L.: Ann. Epidemiol. 2009, 19, 681. Link zur Quelle
  10. Simonsen, L., et. al.:Vaccine 2009, 27, 6300. Link zur Quelle
  11. Baxter, R., et. al.: J. Infect. Dis. 2010, 201,186. Link zur Quelle
  12. Jackson, L.A., et. al.:Int. J. Epidemiol. 2006, 35, 345. Link zur Quelle
  13. Fireman, B., et. al.: Am.J. Epidemiol. 2009, 170, 650. Link zur Quelle

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