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Die Behandlung spastischer Paresen nach der Marktrücknahme von Tetrazepam

Tetrazepam (Musaril®, Myolastan®) wurde in den vergangenen Jahren häufig zur Lösung von Muskelspasmen bei Multipler Sklerose (MS) oder spastischen Paresen nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Traumen sowie als Komedikation bei verschiedenen Formen von Rückenschmerzen („schmerzreflektorische Muskelverspannungen”) angewendet. Tetrazepam war seit > 20 Jahren für diese Indikationen zugelassen. Nun wurde in einem Rote-Hand-Brief das Ruhen der Zulassung in der gesamten EU wegen Sicherheitsbedenken bekannt gegeben (1).

Überwiegend aus Frankreich kamen viele UAW-Meldungen im Zusammenhang mit der chronischen Einnahme von Tetrazepam. In Frankreich können Benzodiazepine nur bei besonderer Begründung dauerhaft verordnet werden. Tetrazepam ist von dieser Regelung ausgenommen. Daher wurde es in Frankreich sehr häufig verordnet, auch bei anderen Indikationen als den genannten. Die UAW-Meldungen im Zusammenhang mit Tetrazepam betreffen überwiegend Hautreaktionen. Über Hautekzeme und besonders schwere Reaktionen wie Stevens-Johnson-Syndrom, toxische epidermale Nekrolyse, Erythema multiforme und Arzneimittelexantheme mit Eosinophilie und systemischen Symptomen (DRESS-Syndrom) wurde immer wieder berichtet. Solche Hautreaktionen sind zwar auch bei anderen Arzneimitteln bekannt, z.B. Allopurinol, Carbamazepin, Co-trimoxazol, bei Tetrazepam wurde jedoch die Nutzen/Risiko-Relation vom „Pharmacovigilance Risk Assessment Committee” (PRAC) der europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) als besonders ungünstig eingestuft.

Daher können ab 1.8.2013 Tetrazepam und Tetrazepam-haltige Präparate nicht mehr verschrieben werden. Apotheker müssen Patienten, die ein Tetrazepam-Rezept vorlegen, an den verordnenden Arzt zurückverweisen. Die bestehende Tetrazepam-Therapie muss beendet, d.h. über mehrere Wochen ausgeschlichen werden.

Laut einer S1-Leitlinie* der deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) aus dem Jahr 2012 (2) stehen zur systemischen oralen Behandlung des spastischen Syndroms als medikamentöse Alternativen Baclofen (z.B. Lioresal®; Wirkung über GABA-B-Agonismus) und Tizanidin (z.B. Sirdalud®; Wirkung über zentralen Alpha-2-Agonismus) zur Verfügung. Auch Clonazepam (Rivotril®) sowie Dantrolen (Dantamacrin®; Hemmung der Ca-Ionen-Freisetzung im Muskel) und Tolperison (Mydocalm®; Blockade des Natrium-Einstroms an Neuronen) werden genannt. Bei Dantrolen wird allerdings explizit darauf hingewiesen, dass es wegen potenzieller Hepatotoxizität und möglicher Verstärkung von Paresen nur unter strenger Indikation eingesetzt werden darf. Speziell für die MS-assoziierte Spastik ist ein Mundspray (Sativex®) zugelassen, das zwei Cannabis-Derivate enthält.

Die orale antispastische Behandlung wird in der DGN-Leitlinie allerdings nur als „Ergänzungstherapie” angesehen, die besonders bei schwerer generalisierter Spastizität immobiler Patienten und zur Erleichterung der Pflege indiziert ist. Im Vordergrund der Behandlung spastischer Syndrome steht – „trotz fehlender evidenzbasierter Studienergebnisse” – die Physiotherapie, besonders Krafttraining und systematisch repetitives funktionell-motorisches Training. Auch andere nicht-medikamentöse Verfahren wie Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Vibration, Akupunktur, Ultraschall, transkranielle Stimulation und Bewegungstherapie im Wasser werden genannt. Alle diese Methoden wurden jedoch nicht unter Studienbedingungen an einer größeren Zahl von Patienten geprüft.

Die wiederholte intramuskuläre Injektion von Botulinustoxin A wird in der Leitlinie als evidenzbasierte Behandlungsform besonders bei fokaler, multifokaler und segmentaler Verteilung der Spastizität, z.B. bei Beugespastik der Ellbogen-, Hand- und Fingermuskeln, spastischer Schulteradduktion und -innenrotation, Adduktorenspastik und spastischem Spitzfuß empfohlen. Bei Patienten mit schwerer generalisierter Spastik, Tetra- oder Paraspastik, die mit Physiotherapie und oraler antispastischer Therapie nicht ausreichend behandelt werden können, kann als ultima ratio eine intrathekale Baclofen-Dauertherapie mittels Pumpe erwogen werden.

Fazit: Tetrazepam kann schwere Hautreaktionen auslösen und wird ab 1.8.2013 in der gesamten EU nicht mehr erhältlich sein. Das Verhältnis von Nutzen und Risiko wird von der EMA als ungünstig beurteilt. Bemerkenswert ist, dass dies den Behörden und Anwendern erst Jahrzehnte nach der Zulassung bewusst geworden ist. Patienten, die wegen Muskelspasmen oder schmerzhaften Verspannungen auf Tetrazepam eingestellt sind, müssen nun auf andere Arzneimittel oder Therapiemaßnahmen umgestellt werden.

Literatur

  1. http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2013/20130624.pdf Link zur Quelle
  2. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-078.html Link zur Quelle

* Anmerkung: S1-Leitlinien haben das niedrigste Evidenzniveau. Eine Expertengruppe hat solche Leitlinien im informellen Konsenserarbeitet; 70% aller Leitlinien sind S1-Leitlinien. S2-Leitlinien werdenentweder durch eine formale Konsensfindung (S2k) oder durch eine systematische„Evidenz”-Recherche (S2e) erstellt und sind somit höherwertiger. Leitlinien mitder höchsten Evidenz sind die S3-Leitlinien, die mit zusätzlichen oder allenElementen einer systematischen Entwicklung (Logik-, Entscheidungs- und„Outcome”-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studienund regelmäßige Überprüfung) erstellt werden.