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Oseltamivir und Zanamivir – die Wahrheit kommt in kleinen Häppchen

Seit März 2011 steht Oseltamivir (Tamiflu®) in der WHO-Liste der „Essential Medicines“ – der unbedingt erforderlichen Arzneimittel (1). Die Frage der Cochrane-Autoren T. Jefferson, P. Doshi und C. del Mar, auf welche Evidenz sich die WHO bei der Listung des Neuraminidasehemmers stützt, blieb bis heute jedoch unbeantwortet (2). Vermutlich berücksichtigte die WHO bei ihrer Evidenzanalyse und Entscheidung nur die selektiven Studiendaten, die vom pharmazeutischen Unternehmer (pU) Roche zur Verfügung gestellt worden waren. Wir haben mehrfach auf die geringe Wirksamkeit und auf Nebenwirkungen von Oseltamivir und Zanamivir zur Prophylaxe und Behandlung der Influenza hingewiesen und deshalb die gesundheitspolitische Entscheidung zur Einlagerung von Oseltamivir bzw. Zanamivir im Rahmen des Pandemieplans sehr skeptisch gesehen (3).

Die Cochrane-Autoren haben inzwischen mehr als vier Jahre gekämpft und mit Hilfe medizinischer Fachzeitschriften (4) konstanten Druck auf den pU, die regulatorischen Behörden und die Politik ausgeübt, um die vollständige Herausgabe aller Studiendaten vom pU und auch von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zu erwirken. Hierbei ging es nicht nur um die Primärdaten der publizierten Studien, sondern auch um die vollständigen Clinical Study Reports (CSRs), in denen alle Details der Studien umfassend dargestellt werden (4, 5). Wir haben vor zwei Jahren über die Forderung nach öffentlichem Zugang zu allen CSRs berichtet (6). Auf diesem Gebiet wurden mittlerweile deutliche Erfolge erzielt, so dass die Cochrane-Autoren um T. Jefferson (4, 7) sowie C.J. Heneghan et al. (8) nun umfassende systematische Übersichten zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Oseltamivir und Zanamivir bei Erwachsenen und Kindern vorlegen konnten. Bei ihrer Literatur- und Datensuche verwendeten die Autoren nicht nur die üblichen, jedermann zugänglichen Datenbanken, sondern im Rahmen ihrer sehr detaillierten Suchstrategie auch die CSRs sowie Kommentare der Zulassungsbehörden, d.h. alle bisher publizierten und unpublizierten Daten.

Insgesamt wurden für Oseltamivir elf Therapiestudien mit Erwachsenen, vier Therapiestudien mit Kindern und fünf Prophylaxestudien in die systematische Übersicht einbezogen (4). Bei Erwachsenen zeigte sich eine minimale Verkürzung der Zeit bis zur Besserung der Influenza-Symptome von 7,0 auf 6,3 Tage oder um 16,7 Stunden (95%-Konfidenzintervall = CI: 8,4-25,1 Std.; p < 0,001). Bei Kindern sind die Ergebnisse wegen erheblicher Heterogenität der Studien nicht verwertbar. Die Häufigkeit von Krankenhausbehandlungen unterschied sich weder bei Erwachsenen oder Kindern noch in den Prophylaxestudien zwischen Verum und Plazebo. Bezüglich der Komplikation Pneumonie - vom nur teilweise verblindeten Untersucher festgestellt, aber nicht durch entsprechende Untersuchungen bestätigt - fand sich eine relative Risikoreduktion um 45% (absolute Risikoreduktion 1%; Number needed to treat = NNT: 100). Nur in fünf eingeschlossenen Studien wurde die Diagnose Pneumonie unabhängig bestätigt, und in diesen Studien fand sich kein Unterschied in der Häufigkeit zwischen Verum und Plazebo.

In den Prophylaxestudien mit Oseltamivir wurde zwar das Risiko für die symptomatische Influenza um 55% reduziert, nicht jedoch für alle influenzaartigen Erkrankungen. Auch die weitere Verbreitung der Influenza konnte durch Oseltamivir nicht vermindert werden, und es fand sich auch kein Unterschied in der Häufigkeit von Komplikationen.

Die Metaanalyse ergab ein erhöhtes Risiko für Übelkeit und Erbrechen unter Oseltamivir, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern (Erwachsene: RR 1,57; CI: 1,14-2,51; absolute Risikozunahme 3,7%; Number needed to harm = NNH: 28 bzw. RR: 2,43; CI: 1,75-3,38; absolute Risikozunahme 4,6%; NNH: 22). Psychische Nebenwirkungen wurden nicht öfter beobachtet als unter Plazebo. In den Prophylaxestudien zeigte sich ein höheres Risiko für Kopfschmerzen, Übelkeit und psychische Nebenwirkungen unter Einnahme von Oseltamivir mit einer NNH von 25-94. Insgesamt wurden in allen Studien fünf Todesfälle registriert, davon drei in der Plazebo- und zwei in der Verum-Gruppe. Kein Todesfall stand mit einer Influenza-Infektion in Zusammenhang.

Die Ergebnisse der systematischen Übersicht zu Zanamivir (Relenza®, GlaxoSmithKline) ähneln weitgehend denen von Oseltamivir (8). Die Metaanalyse aller Studien ergibt eine Verkürzung der Krankheitsdauer (Rückkgang deutlicher Symptome) um 14,4 Std. (0,60 Tage; CI: 0,39-0,81; p < 0,001), d.h. von 6,6 auf 6,0 Tage. Es fand sich kein Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Auch hinsichtlich der Komplikationen Pneumonie, Otitis media, Sinusitis ergab sich kein Unterschied zwischen Zanamivir und Plazebo mit Ausnahme eines marginalen positiven Effekts auf die Komplikation akute Bronchitis. In allen Studien zusammen kam es zu acht Todesfällen, zwei davon in Zusammenhang mit einer Influenza-Pneumonie, einer in der Verum- und einer in der Plazebogruppe.

In den Prophylaxestudien wurde das Risiko für eine symptomatische Influenza durch Zanamivir signifikant gesenkt (RR: 0,39; CI: 0,22-0,70; absolute Risikoreduktion 1,98%; NNT: 51). Die Studien sind jedoch sehr heterogen und die Fallzahlen gering. Hinzu kommt, dass von allen 28 Studien zu Zanamivir nur zwei verblindet waren. Deshalb sind die von Gesunden bzw. Patienten berichteten Komplikationen und Symptome wenig aussagekräftig.

Von den um die Jahrtausendwende verkündeten großartigen Wirkungen der beiden Neuraminidasehemmer ist somit nur wenig übrig geblieben. Was besonders irritiert, ist die scheibchenweise Offenlegung der dem pU über eineinhalb Jahrzehnte bekannten Daten. Dadurch wurden weltweit mehr als 13 Mrd. € an Umsätzen erzielt, denn viele Staaten haben durch diese Art der Desinformation in Panik Millionen von Packungen auf Vorrat gekauft, um gegen eine drohende Pandemie gewappnet zu sein. Zum Glück ist diese Pandemie ausgeblieben, denn die angepriesenen Arzneimittel hätten wenig geholfen. Neben dem Kaufpreis verursacht die Entsorgung der Mittel wegen des Verfalldatums weitere Kosten (9).

In Anbetracht der neuen kompletten Daten ist es unverständlich, dass der Einsatz von Oseltamivir zur Kontrolle von Influenza-Infektionen nach wie vor sehr positiv und völlig unkritisch eingeschätzt wird, auch in einer renommierten medizinischen Zeitschrift wie kürzlich im N. Engl. J. Med. (10). Die Regierung in Großbritannien hat – ebenso unverständlich – in diesem Jahr noch eine Bevorratung von Oseltamivir in Höhe von umgerechnet 60 Mio. € vorgesehen (11). Dass die Steuerzahler für die Folgen der scheibchenweisen Enthüllung der Daten und der Irreführung der Fachwelt aufkommen müssen, ist skandalös.

Fazit: Die jahrelang zurückgehaltenen Ergebnisse zu Oseltamivir und Zanamivir zur Behandlung und Prophylaxe der Influenza sind nun weitgehend veröffentlicht. Die Cochrane-Autoren kommen im letzten Update ihrer systematischen Übersicht (7) zu dem Schluss, dass beide Neuraminidasehemmer wenig wirksam sind und allenfalls die Zeit bis zur Linderung der Symptome um wenige Stunden verkürzen. Beide verursachen zwar offenbar keine schweren Nebenwirkungen, aber vor allem Oseltamivir führt häufig passager zu Übelkeit. Auch aus gesundheitsökonomischen Gründen muss von der Therapie und der Prophylaxe abgeraten werden. Oseltamivir gehört weder auf die Liste der „Essential Medicines“ der WHO noch sollte es bevorratet werden. Die Vorgänge um Tamiflu verdeutlichen eindrucksvoll die Bedeutung von mehr Transparenz in der klinischen Forschung, die ohne öffentlich zugängliche Studiendaten nicht erreicht wird.

Literatur

  1. http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/93142/1/EML_18_eng.pdf?ua=1 Link zur Quelle
  2. Tamiflu-WHO-correspondence.www.bmj.com/tamiflu/who Link zur Quelle (Letzter Zugriffam 12.6.2014).
  3. AMB 2006, 40,17 Link zur Quelle . AMB 2009, 43, 28 Link zur Quelle . AMB 2010, 44,04. Link zur Quelle
  4. Jefferson, T., et al.:BMJ 2014, 348, g2545. http://www.bmj.com/content/348/bmj.g2545 Link zur Quelle
  5. Doshi, P., und Jefferson, T.: BMJOpen 2013, 3, e002496.
  6. AMB 2012, 46, 49. Link zur Quelle
  7. Jefferson, T., et al.:Cochrane Database Syst. Rev. 2014;4:CD008965.
  8. Heneghan, C.J., et al.:BMJ 2014, 348, g2547. http://www.bmj.com/content/348/bmj.g2547 Link zur Quelle
  9. AMB 2012, 46,40DB01. Link zur Quelle
  10. Uyeki, T.M.: N. Engl. J. Med. 2014, 370, 789.
  11. Torjesen, I.: BMJ2014, 348, g2761.