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Atypische Neuroleptika erhöhen das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 bei Kindern und Jugendlichen

Atypische Neuroleptika (AN) wie Olanzapin, Risperidon und Quetiapin führen bei Erwachsenen häufig zu Gewichtszunahme, höheren Glukosespiegeln oder zur Insulinresistenz. Diese Faktoren prädisponieren für Diabetes mellitus Typ 2 (DMT2; 1, 2). Gerade bei älteren Patienten ist das Nutzen-Schaden-Verhältnis dieser Wirkstoffe ungünstig (3). Obwohl laut Fachinformation AN für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren generell nicht angezeigt sind (4), wurden sie früher bei dieser Patientengruppe zur Behandlung der Schizophrenie und von anderen psychotischen Zuständen eingesetzt. Auch in diesen Altersgruppen ergaben sich Hinweise für die Nebenwirkung Gewichtszunahme bzw. Diabetes (5, 6). Heute werden AN auch zunehmend bei Verhaltensstörungen, wie beispielsweise beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) verordnet. Für diese Störungen gibt es therapeutische Alternativen, so dass Neuroleptika nur als zweite Wahl gelten bzw. „off-label“ eingesetzt werden.

Die Inzidenz eines neuaufgetretenen DMT2 nach Beginn einer Behandlung mit Neuroleptika wurde in einer retrospektiven Kohortenstudie im Rahmen des „Tennessee Medicaid“-Programms bei 28.858 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 24 Jahren (mittleres Alter 14,5 Jahre; 56% männlich) untersucht. Sie wurden mit 14.429 Kontroll-Patienten verglichen, die keine Neuroleptika, aber andere Psychopharmaka erhielten (7). Die Nachbeobachtung zwischen Januar 1996 und Dezember 2007 betrug mindestens ein Jahr. Ausschlusskriterien waren u.a. lebensbedrohliche Krankheiten, Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung, manifester DM, Schwangerschaft oder ein polyzystisches Ovarialsyndrom, das mit oralen Antidiabetika behandelt wurde. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Patienten mit Schizophrenie, Autismus, mentaler Retardierung oder Tourette-Syndrom, für die es außer Neuroleptika keine Therapiealternativen gab, sowie solche, die mit Clozapin oder langwirksamen parenteralen Neuroleptika behandelt wurden.

Allen Patienten, die ein Neuroleptikum einnahmen, war dieses erst kurz vor Einschluss in die Studie verschrieben worden, und zwar ohne dass eine Diagnose vorlag, für die Neuroleptika die einzige Therapiemöglichkeit gewesen wären. Die mittels „propensity score matching“ empirisch ausgewählten Kontroll-Patienten hatten vergleichbare Diagnosen, nahmen aber andere Psychopharmaka ein, wie Lithium, Antikonvulsiva, Antidepressiva oder Psychostimulanzien bzw. Benzodiazepine. Sie unterschieden sich ansonsten nicht von der Neuroleptika-Gruppe in 115 Kovariablen, darunter die demographischen Charakteristika, potenzielle Einnahme von Antipsychotika, metabolische Erkrankungen und Faktoren, die zur Entwicklung eines Diabetes prädisponieren. Jeweils zwei Patienten, die ein Neuroleptikum einnahmen, wurden einem Kontrollpatienten zugeordnet. Die Patienten wurden durch das Einlösen der Rezepte identifiziert und durften die Neuroleptika noch nicht länger als 90 Tage eingenommen haben. Auf diese Art wollte man die Inzidenz von DMT2 zu Beginn der Therapie feststellen. Die Nachbeobachtung endete mit der Diagnose von Diabetes, dem Tod oder dem Eintreten von Ausschlusskriterien bzw. 365 Tage nach der letzten Einnahme des Neuroleptikums oder der Vergleichsmedikation. In der Kontroll-Gruppe war auch die Verschreibung eines Neuroleptikums ein Grund zum Abbruch. Für die Diagnose „Diabetes“ war in dieser Studie die primäre Diagnose Diabetes bei Entlassung aus dem Krankenhaus relevant oder die Verschreibung eines Antidiabetikums plus Diagnose DMT2. Es fragt sich allerdings, ob die Methodik dieser Studie, d.h. ohne ein vorausgehendes Screening-Programm für Diabetes, das Nebenwirkungsrisiko von Neuroleptika real wiedergibt und nicht auch in der Kontroll-Gruppe möglicherweise Arzneimittel eingenommen wurden, die das Risiko für DMT2 erhöhen (vgl. Kommentar bei 8).

Die häufigsten psychiatrischen Diagnosen waren ADHS (38,9%), Stimmungsschwankungen („other mood disorders“; 33,3%), Verhaltensstörungen („conduct disorder“; 25,3%), Angsterkrankungen (20,6%), Depression (19,3%) und bipolare Störungen (18,3%). 87% nahmen ein AN ein, wobei Risperidon am häufigsten verschrieben wurde (37%), gefolgt von Quetiapin (20%) und Olanzapin (20%). Die Patienten, die Risperidon verschrieben bekamen, waren jünger, häufiger männlich, hatten vielfach ADHS und auch niedrigere Startdosen als Patienten mit anderen Neuroleptika.

Es zeigte sich, dass das Risiko für einen neu aufgetretenen DMT2 bei Kindern zwischen 6 und 17 Jahren bei Therapie mit allen AN insgesamt etwa dreifach höher war als bei den Kontrollen (Hazard Ratio = HR: 3,03; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,73-5,32). Das Risiko steigerte sich mit der kumulativen Dosis der AN (HR: 2,13; CI: 1,06-4,27 für kumulative Dosen bis 5 g; HR: 3,42; CI: 1,88-6,24 für kumulative Dosen von 5-99 g; HR: 5,43; CI: 2,34-12,61 für kumulative Dosen von ≥ 100 g), berechnet nach Grammäquivalenten zu Chlorpromazin (p < 0,04). Ein Jahr nach dem Absetzen der AN-Therapie war das Risiko immer noch höher (HR: 2,57; CI: 1,34-4,91). Auch in verschiedenen Subgruppen, die durch Alter, Geschlecht, die Diagnose bipolare Störung, ADHS oder Verhaltensstörung definiert waren, war das Risiko für DMT2 in der AN-Gruppe signifikant höher.

Fazit: Atypische Neuroleptika sollten bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen wie beispielsweise ADHS in Anbetracht der fehlenden Zulassung für diese Indikation und wegen der Nebenwirkungen nicht oder nur in Ausnahmesituationen und dann mit striktem Monitoring angewendet werden. Das Risiko für Diabetes mellitus erhöht sich während einer solchen Behandlung bereits im ersten Behandlungsjahr deutlich und steigt mit kumulativer Dosis weiter. Auch wenn die „number needed to harm“ für diese Nebenwirkung „nur“ 633 beträgt, ist das Diabetesrisiko angesichts des Alters besonders zu bedenken.

Literatur

  1. Sernyak,M.J., et al.: Am. J. Psychiatry 2002, 159,561. Link zur Quelle
  2. Newcomer,J.W.: CNS Drugs 2005; 19 Suppl. 1, 1. Link zur Quelle
  3. AMB 2013, 47,07. Link zur Quelle
  4. Fachinformationenvon Seroquel®, Risperdal®, Zyprexa®.
  5. Hammerman, A., etal.: Ann. Pharmacother.2008, 42, 1316. Link zur Quelle
  6. Panagiotopoulos,C., et al.: Can. J. Psychistry 2009, 54, 743. Link zur Quelle
  7. Bobo, W.V.,et al.: JAMA Psychiatry 2013, 70, 1067. Link zur Quelle
  8. Samaras,K.: JAMA Psychiatry 2014, 71, 209. Link zur Quelle