Orale Kontrazeptiva (OK) gehören in Deutschland zu den zuverlässigsten und am häufigsten verwendeten Mitteln zur Empfängnisverhütung [1]. OK verwenden 47% aller sexuell aktiven Frauen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren – in der Altersgruppe der 18 bis 29-jährigen sind es sogar 56% [2]. Angeboten werden viele verschiedene Präparate, die sich hinsichtlich ihrer hormonellen Zusammensetzung und Dosierung unterscheiden mit entsprechend unterschiedlichen Nebenwirkungsprofilen (vgl. [3]). Zu den schwerwiegenden Nebenwirkungen hormoneller Kontrazeptiva zählen venöse Thromboembolien (VTE), wobei Präparate, die Levonorgestrel, Norethisteron oder Norgestimat enthalten, mit dem geringsten VTE-Risiko verbunden sind [4]. Seit Jahren wird auch ein kausaler Zusammenhang zwischen der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva und dem Auftreten von Depressionen kontrovers diskutiert [2], [5]. So warnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeinsam mit den Zulassungsinhabern im Jahr 2019 in einem Rote-Hand-Brief vor Suizidalität als möglicher Folge einer Depression unter hormonellen Kontrazeptiva [6]. Dies wurde von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe umgehend kritisiert, da sie die zugrunde liegenden Studien als wissenschaftlich wertlos einschätzte [7]. Zur Unsicherheit trägt bei, dass in den Studien zu hormoneller Kontrazeption und Depression ein „healthy user bias“ vermutet wird: Eine Stichprobenverzerrung, die dadurch entsteht, dass von depressiven Verstimmungen betroffene Frauen an den Untersuchungen nicht teilnehmen, so dass die Häufigkeit der Nebenwirkung unterschätzt wird. Nun ergaben sich in einer bevölkerungsbasierten Kohortenstudie erneut Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von OK und dem Auftreten von Depressionen [8].
In der Untersuchung wurden Daten von allen 264.557 Frauen aus der UK-Biobank analysiert. Die UK-Biobank ist eine große biomedizinische Datenbank, für die in den Jahren 2006-2010 insgesamt 500.000 Personen im Alter von 40-69 Jahren aus dem gesamten Vereinigten Königreich rekrutiert wurden, zu denen über 30 Jahre fortlaufend vielfältige Daten beispielsweise aus Interviews und Laboruntersuchungen gesammelt werden sollen [9]. Informationen zur Einnahme oraler Kontrazeptiva wurden über einen Fragebogen erhoben, darunter das Alter bei Beginn und Ende der Anwendung [8]. Das Auftreten von Depressionen wurde anhand von Befragungen, stationären Krankenhausdaten und Daten aus der Primärversorgung ermittelt. Die Hazard Ratio (HR) für eine Depression bei Anwendung bzw. Nicht-Anwendung oraler Kontrazeptiva wurde mittels multivariabler Cox-Regressionsanalysen geschätzt. Um auszuschließen, dass die Ergebnisse durch familiäre Risikofaktoren verzerrt werden, untersuchten die Forschenden auch 7.354 Schwesterpaare.
80,6% der Frauen hatten OK eingenommen. Zwischen der ersten und der letzten Einnahme lagen im Median 10 Jahre. Das Alter bei Beginn und Ende der Einnahme lag im Median bei 21 bzw. 32 Jahren. Bei insgesamt 24.750 Frauen (ca. 10%) wurde eine Depression diagnostiziert. Die Auswertung der Daten ergab, dass die ersten 2 Jahre der Anwendung oraler Kontrazeptiva mit einer höheren Rate an Depressionen assoziiert waren im Vergleich zu keiner Anwendung (HR: 1,71; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,55-1,88). Die regelmäßige Einnahme von oralen Kontrazeptiva war auch mit einem erhöhten Lebenszeitrisiko für Depressionen assoziiert (HR: 1,05; CI: 1,01-1,09). Eine frühere Anwendung oraler Kontrazeptiva war im Vergleich zu keiner Anwendung ebenfalls mit einer höheren Rate für Depressionen verbunden, wobei dies auf Anwenderinnen zurückzuführen war, die vor ihrem 20. Geburtstag mit der Einnahme begonnen hatten (HR: 1,18; CI: 1,12-1,25). Bei älteren Anwenderinnen, die früher OK eingenommen hatten, ergab sich kein höheres Risiko für eine Depression.
Von den Geschwisterpaaren hatten 81% OK eingenommen. Berechnungen nach einem komplexen statistischen Modell stützen aus Sicht der Autoren die Hypothese eines kausalen Zusammenhangs zwischen Einnahme von OK und Depressionen.
Die Autoren weisen darauf hin, dass die Aussagekraft der Ergebnisse aus verschiedenen Gründen eingeschränkt ist. Dazu gehört der „Recall bias“, der die Ergebnisse dadurch verzerren kann, dass die Teilnehmerinnen sich nicht mehr genau erinnern, insbesondere an ihr Alter bei Beginn und Ende der oralen Kontrazeption. Außerdem sind die Teilnehmenden der UK-Biobank gesünder als die durchschnittliche Bevölkerung, und Europäer sind überrepräsentiert, was die Verallgemeinerbarkeit einschränkt. Darüber hinaus wurde nicht zwischen verschiedenen oralen Kontrazeptiva differenziert. Die Autoren schreiben, dass die Frauen in der Untersuchung vermutlich überwiegend OK der 2. Generation eingenommen haben, die Östrogene und Progesteron enthalten und immer noch häufig angewendet werden.