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Die Einführung von Paclitaxel in die Onkologie. Ursachen und Auswirkungen eines fragwürdigen Erfolgs

Als das Zytostatikum Paclitaxel 1994 eingeführt wurde, verhieß man ihm eine große Zukunft. Daß diese Substanz aber schon bald danach zum Marktführer unter den Zytostatika avancieren würde, ahnten wenige. Das Phänomen dieses in der Onkologie beispiellosen Erfolges wird verständlich, wenn man die ihrerseits einmalige Konstellation begünstigender Faktoren bedenkt, die den Aufstieg von Paclitaxel begleiteten:

· Zur Zeit der Lancierung des Paclitaxel befand sich die Onkologie auf einer Durststrecke, da länger keine wirksamen neuen Substanzen eingeführt worden waren.

· Da die Muttersubstanz erst seit 1994 halbsynthetisch hergestellt werden konnte, schien zunächst sogar die pazifische Eibe als Art gefährdet (vgl. AMB 1992, 26, 127). Dem Medikament hat dies aber nicht geschadet, vielmehr wurde es hierdurch erst recht bekannt und dazu noch mit einer naturnahen Aura versehen.

· Unter dem glücklich gewählten Markennamen Taxol wurde das Marketing durch einen erfolgserfahrenen Großkonzern von Anfang an mit einem Millionenetat professionell betrieben.

· Pacllitaxel wurde schon bei seiner Einführung vor allem bei marktwichtigen Krankheiten, wie Mamma-, Ovarial- und Bronchialkarzinom, als wirksam beschrieben und getestet.

· Publikationen über Wirkungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) der neuen Substanz waren für klinische Forscher eine willkommene Gelegenheit zum akademischen Aufstieg, so daß es heute bereits über 6000 Veröffentlichungen gibt.

· Die Zahl der Abstracts über Paclitaxel war in den letzten Jahren zudem so groß, daß die Firma nach den großen Kongressen separate Abstract-Bände druckte und die wichtigsten Erkenntnisse auf Satelliten-Symposien von hochbezahlten „Opinion leaders“ verbreiten ließ.

· Ab einer Dosis von 200 mg/m2 läßt sich Paclitaxel nur in Kombination mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren verabreichen, so daß es nicht überrascht, daß sich die Hersteller beider Wirkstoffe im Marketing miteinander verbündeten.

· Paclitaxel kann über 1, 2, 3, 24 oder 96 Stunden und in einem ein- oder dreiwöchentlichen Intervall verabreicht werden, was zu einer Vielzahl von Studien zum Vergleich der verschiedenen Applikationsformen führte.

· Die UAW von Paclitaxel sind zwar beträchtlich, durch geschicktes Produktmarketing wurde aber suggeriert, diese seien stets beherrschbar und angesichts der guten Wirksamkeit der Substanz zu vernachlässigen.

· Schließlich ist Paclitaxel in der Tat bei so vielen Tumoren wirksam, daß bei fast allen Studien zumindest ein kleiner Anteil von „Respondern“ herauskam, der sich als „vielversprechend“ darstellen ließ.

Welchen Stellenwert aber hat dieses Zytostatikum heute? Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, stellt man überrascht fest, daß es trotz der über 6000 Veröffentlichungen kaum überzeugende große randomisierte Studien gibt – weder solche mit negativem noch solche mit eindeutig positivem Ergebnis. Die Literatur besteht vielmehr überwiegend aus Phase-l/II-Studien, denen man allenfalls entnehmen kann, daß sich Paclitaxel mit „hoher“ Wirkung und „akzeptabler“ Toxizität bei praktisch jedem Malignom einsetzen läßt, wobei die Definitionen von „akzeptabel“ und „wirksam“ meist stark variieren oder ganz im Dunklen bleiben. Diese Literatur mag manche Bedürfnisse, etwa die von Ärzten nach Publikationen oder des Pharmakonzerns nach steigenden Umsätzen befriedigen; für eine verantwortungsvolle Umsetzung in die tägliche klinische Praxis bleibt sie aber untauglich, auch wenn sie in immer neuen Hochglanz-Broschüren, häufig in Form kostenloser Beilagen zu onkologischen Fachzeitschriften, graphisch geschickt und mit suggestiven Synopsen aufbereitet wird.

Einigermaßen gesicherte Erkenntnisse bestehen daher heute vor allem über die UAW von Paclitaxel: neben Überempfindlichkeitsreaktionen, Myelosuppression und Alopezie vor allem periphere Polyneuropathien und – insbesondere in Verbindung mit Anthrazyklinen – kardiale Toxizität (vgl. AMB 1999, 33, 41). Es ist deshalb erstaunlich, wie Paclitaxel trotz dieser Vielzahl und zum Teil ernsten UAW heute auch in palliativer Indikation oft den verträglicheren „alten“ Zytostatika vorgezogen wird.

Gesichert ist zudem, daß Paclitaxel bei vielen soliden Tumoren als Monotherapie Ansprechraten erzielt, die mit den bisher wirksamsten Substanzen vergleichbar sind, und daß die Wirksamkeit bei hämatologischen Neoplasien enttäuschend ist (1). Sowohl als Monotherapie als auch in der Kombination mit anderen Zytostatika bleibt aber noch unklar, wobei Paclitaxel seinen Vorgängern in bezug auf Wirkungen und UAW signifikant überlegen ist. Der Eindruck der Überlegenheit wird zwar immer wieder auch durch größere Phase-Ill-Studien erweckt (2); bei genauerem Hinsehen und mit längerer Beobachtungsdauer erweisen sich aber selbst diese oft als zweifelhaft (3). So ist vermutlich die Kombination von Paclitaxel und Cisplatin beim inoperablen Ovarialkarzinom tatsächlich (mit übrigens unverändert palliativer Intention) etwas besser und länger wirksam als Cisplatin plus Cyclophosphamid; der Unterschied zwischen diesen Therapien ist aber sowohl in seinem Ausmaß als auch in bezug auf die hieraus resultierenden Mehrkosten und die genaue Auswahl der Vergleichstherapie heftig umstritten (4-6).

Kürzlich wurde der Einsatz von Paclitaxel in der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms propagiert, bei der 4 Zyklen mit Doxorubicin und Cyclophosphamid (AC) plus 4mal Paclitaxel (AC + T) signifikant bessere Ergebnisse erzielen sollen als 4mal AC (7). Bei dieser Studie wurde nun scheinbar alles richtig gemacht. Über 3000 Patientinnen wurden multizentrisch und unter kontrollierten Bedingungen behandelt. Der Teufel steckt hier aber in einem problematischen Design, das selbst mit noch mehr Patientinnen oder Kontrollen nicht verbessert würde. Was in dieser Studie tatsächlich verglichen wurde, ist weniger AC + T mit 4 mal AC, sondern 8 Zyklen adjuvanter Standard-Chemotherapie mit 4 Zyklen bzw. 3 Zytostatika mit 2 in der adjuvanten Situation sowie 24 Wochen adjuvanter Behandlung mit 12 Wochen. Aufgrund dieser Studie kann keineswegs ausgeschlossen werden, daß AC plus eine andere effektive Substanz in der Behandlung des Mammakarzinoms ähnlich günstige Ergebnisse wie AC + T erbringen würde. Man hat fast den Verdacht, daß die Autoren der Studie schon bei deren Konzeption daran dachten, wie man diesem Taxan zu einer neuen Indikation verhelfen könnte.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist unumstritten, daß Paclitaxel ein wirksames Zytostatikum ist. Für eine der wirksamsten Innovationen des letzten Jahrzehnts hätte man sich jedoch eine weitsichtigere, im Design transparentere und auf definitiven Ergebnissen großer Phase-Ill-Studien basierende Markteinführung gewünscht. Da dies versäumt wurde, stehen wir jetzt vor der traurigen Bilanz, daß Paclitaxel in Deutschland zwar jedes Jahr dreistellige Millionenumsätze erzielt, wir aber nicht wissen, ob alle Anwendungen auf validen wissenschaftlichen Daten beruhen oder aber nur den Erfolg eines suggestiven Marketings widerspiegeln.

Fazit: Es bleibt zu hoffen, daß wir aus dem verheerend teuren Siegeszug von Paclitaxel lernen, bei neuen Pharmaka die Regeln der „Evidence based medicine“ von Anfang an stärker zu beachten. Das Umgehen dieser Regeln wurde bei Paclitaxel durch ungeduldige Sehnsucht nach neuen Wirkstoffen, unkritischen Publikationseifer, mangelnde Skepsis gegenüber Erfolgsberichten und durch einen diese Schwächen geschickt und systematisch ausnutzenden Pharmakonzern nur allzu leicht gemacht.

Literatur

  1. Rowinsky, E.K., und Donehower, R.C.: N. Engl. J. Med. 1995, 332, 1004.
  2. McGuire, W.P., et al.: N. Engl. J. Med. 1996, 334, 1.
  3. ICON2 trial; Lancet 1999, 353, 587.
  4. Messon, A., et al.: Cancer 1996, 78, 2366.
  5. Elit, L.M., et al.: J. Clin. Oncol. 1997, 15, 632.
  6. ICON2 Collaborators: Lancet 1998, 352, 1571.
  7. Henderson, I.C., et al.: Proc. Am. Soc. Clin. Oncol. 1998, 17, 101 a (Abstract #390).