Seit Anfang der 90er Jahre ist bekannt, daß die perikonzeptionelle Einnahme kleiner Dosen von Folsäure die Zahl von Neuralrohr-Defekten (NRD) bei Neugeborenen reduziert (s.a. 1). In Experimenten an der Ratte wurde gezeigt, daß die Injektion von Antiseren gegen Folatrezeptoren (FR) bei tragenden Ratten zur Resorption der Feten führt.
Aus diesem Grund untersuchten S.P. Rothenberg et al. aus New York (2) die Seren von 12 Frauen, die Kinder mit NRD geboren hatten (Gruppe 1) sowie die von 20 Frauen mit gesunden Kindern und von 4 Nulligravida (24 Kontrollen, Gruppe 2) auf FR-Antikörper. Die Technik bestand im Messen der Verdrängung von tritiertem Folat durch die betreffenden Seren von den FR an Plazentamembranen und an zwei verschiedenen Zellkultur-Populationen, die FR exprimieren.
Neun von 12 Seren der Gruppe 1 und 2 von 24 der Gruppe 2 enthielten FR-Antikörper. Der Unterschied zwischen den mittleren Titern der beiden Gruppen war trotz der kleinen Probandenzahl hochsignifikant (p = 0,002). Die Autoren betonen, daß weitere Studien klären müssen, ob die Antikörper die NRD verursacht haben.
In einem Editorial von N.J. Wald aus London im gleichen Heft des N. Engl. J. Med. (3) wird ausgeführt, daß die Befunde von Rothenberg et al. die Ergebnisse verschiedener klinischer Studien erklären könnten. In verschiedenen Ländern, so auch in Deutschland, wird Frauen, die eine Schwangerschaft planen, empfohlen, vor der Konzeption und im ersten Trimenon der Schwangerschaft 0,4 mg Folsäure täglich einzunehmen. Dies führe zu einer Reduktion der Inzidenz von NRD um ca. 36%. In Großbritannien ergab eine Studie jedoch, daß die perikonzeptionelle Einnahme von 4 mg Folsäure/d die Inzidenz der NRD um ca. 80% reduziert. Seit längerem schon wird Frauen, die bereits ein Kind mit NRD geboren haben (oder die bestimmte Antiepileptika einnehmen müssen, die den Folat-Abbau beschleunigen), empfohlen, vor bzw. in der nächsten Schwangerschaft 5 mg Folsäure/d einzunehmen. Hierdurch wird die Inzidenz von NRD nachweislich gesenkt. Wald hält es für wahrscheinlich, daß bei Frauen mit Autoantikörpern gegen FR das Angebot einer größeren Folatdosis durch Verdrängung der Antikörper vom FR die Entstehung von NRD verhindern kann.
Folsäure bzw. Methyl-Folat greift durch die Methylierung von Uracil zu Thymidin, von fertigen Nukleinsäuren, durch vermehrte Methionin-Synthese (und Senken der Homozystein-Konzentration im Serum) in sehr viele biochemische Reaktionen ein. Bisher gibt es kaum Hinweise darauf, daß eine relativ hoch dosierte Folat-Supplementierung, z.B. von Mehl und Zerealien (in den USA und anderen amerikanischen Staaten bereits Routine) oder die langfristige Einnahme von 5 mg Folat/d durch Menschen mit hohen Homozysteinwerten zur Prophylaxe der Arteriosklerose zu erheblichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) führt. Eine bekannte aber seltene UAW ist die Verschleierung einer makrozytären Anämie durch Einnahme von Folsäure bei Menschen mit einem Vitamin-B12-Mangel. An diese Möglichkeit muß bei geplanter Langzeitmedikation mit Folsäure gedacht werden.
In einem Clinical Review im Brit. Med. J. (4) stellt M. Lucock aus Australien fest, daß in den letzten 5 Jahren die Zahl wissenschaftlicher Publikationen über Folat und Schwangerschaft bzw. kardiovaskuläre Erkrankungen explosionsartig gestiegen ist. Er warnt davor, die Bevölkerungen ganzer Länder mit relativ großen Dosen Folat zu versorgen, einer Substanz mit so vielfältigen Effekten auf das Genom und auf die epigenetischen biochemischen Vorgänge. Auf jeden Fall sei große Wachsamkeit hinsichtlich möglicher UAW angesagt.
Fazit: Bei Frauen, die Kinder mit Neuralrohrdefekten (NRD) geboren haben, finden sich oft Antikörper gegen Folsäurerezeptoren im Serum. Dieser Befund könnte erklären, warum bei solchen Frauen eine größere tägliche Dosis von Folsäure (5 mg/d) perikonzeptionell bei späteren Schwangerschaften erforderlich ist, um erneute NRD zu verhindern als bei anderen Frauen (0,4 bis 0,8 mg/d). Die optimale prophylaktische Dosis von Folsäure für Schwangere mit durchschnittlichem Risiko für NRD der Feten unter Berücksichtigung möglicher UAW ist noch nicht bekannt.
Literatur
- AMB 2001, 35, 94.
- S.P. Rothenberg, S.P., et al.: N. Engl. J. Med. 2004, 350, 134.
- Wald, N.J.: N. Engl. J. Med. 2004, 350, 101.
- Lucock, M.: Brit. Med. J. 2004, 328, 211.