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Flibanserin: Arzneimittel oder wirkungsarme und gefährliche Sexpille?

Im August 2015 wurde Flibanserin von der Food and Drug Administration (FDA) für den US-amerikanischen Markt zugelassen. Seit dieser umstrittenen und für viele überraschenden Entscheidung war der – mitunter (nicht zutreffend) als „Viagra für Frauen“ bezeichnete – Wirkstoff auch in der europäischen Laienpresse mehrfach Gegenstand kritischer Berichte (z.B.: 1, 2). Wir möchten ihn daher kurz besprechen, auch wenn er in Europa nicht zugelassen ist und nach unserer Information auch kein Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) vorliegt.

Bei Flibanserin handelt es sich um einen Serotonin-Agonisten (5-HT1A-Rezeptor) und -Antagonisten (5-HT2A-Rezeptor) sowie partiellen Dopamin-Agonisten. Die zugelassene Indikation in den USA ist die sogenannte hypoaktive Sexualfunktionsstörung (Hypoactive Sexual Desire Disorder = HSDD) prämenopausaler Frauen. Diese ist definiert als ein dauerhafter Mangel an sexueller Lust, der eine persönliche oder partnerschaftliche Belastung zur Folge hat und der nicht durch Erkrankungen, Arzneimittel(-nebenwirkungen) oder Beziehungsprobleme erklärbar ist. Die Behandlung besteht in der einmal täglichen oralen Einnahme von 100 mg Flibanserin. Mit einem Einsetzen der Wirkung ist nach einigen Wochen zu rechnen. Dem stehen zahlreiche und häufige Nebenwirkungen gegenüber, u.a. Schwindel (11%), Müdigkeit (11%), Übelkeit (10%), Schlaflosigkeit (5%), Erschöpfung (9%), Hypotonie, Synkopen, Angstzustände, Obstipation (3). Da die Substanz über CYP3A4 in der Leber abgebaut wird, ist ein großes Interaktionspotenzial zu beachten. Die Einnahme von CYP3A4-Inhibitoren (z.B. Azol-Antimykotika, HIV-Protease-Hemmer) und Alkoholkonsum werden daher – neben Leberschäden – als Kontraindikationen angeführt, da es darunter zu einer verstärkten Wirkung von Flibanserin kommt mit Gefahr einer Hypotension.

Wegen des ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses hat der Wirkstoff eine bewegte Zulassungsgeschichte hinter sich: Flibanserin wurde ursprünglich von Boehringer-Ingelheim (erfolglos) als Antidepressivum entwickelt und wegen einer beobachteten steigernden (Neben-)Wirkung auf das Sexualverlangen dann unter der neuen Indikation HSDD zunächst in zwei Phase-III-Studien (DAISY, VIOLET; 4, 5) getestet. Diese untersuchten die monatliche Zahl „befriedigender sexueller Ereignisse“ (satisfying sexual events = SSE), das Sexualverlangen (erfasst mittels elektronischem Logbuch) und die aus mangelnder sexueller Erfüllung resultierende psychische Belastung („Sexual distress“; s. Tab. 1) als Endpunkte. Aufgrund wenig überzeugender Ergebnisse und des ungünstigen Nebenwirkungsprofils entschied sich die FDA 2010 gegen eine Zulassung und forderte weitere Studien. Daraufhin gab Boehringer-Ingelheim auf und verkaufte das Patent zur Weiterentwicklung des Wirkstoffs an die eigens dafür gegründete US-amerikanische Firma Sprout Pharmaceuticals. Nach einer weiteren Phase-III-Studie (BEGONIA; 6), die infolge adaptierter Endpunkte und umfangreicher Ausschlusskriterien schließlich doch signifikante Ergebnisse bei allen Endpunkten erzielte, und nach mehreren Phase-I-Studien zu möglichen Interaktionen wurde der Zulassungsantrag erneut abgelehnt. Schließlich erfolgte nach Studien zu Fahrtüchtigkeit und Interaktionen im August 2015 in den USA die Marktzulassung für die oben genannte Indikation (Handelsname: Addyi®). Nach der Zulassung wurde Sprout Pharmaceuticals für 1 Mrd. US-$ vom kanadischen pharmazeutischen Unternehmen (pU) Valeant übernommen.

Ergebnisse aus den drei randomisierten Zulassungsstudien sind in Tab. 1 zusammengefasst. Flibanserin zeigt in den untersuchten Endpunkten einen signifikanten, aber kleinen Vorteil gegenüber dem auffallend ausgeprägten Plazeboeffekt. Die Abbruchraten wegen Nebenwirkungen lagen unter Flibanserin bei 12,8%, bei Plazebo bei 5,9%. Die häufigsten Gründe für das Absetzen von Flibanserin waren Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit, Angstzustände und Schlaflosigkeit, also Beschwerden, die vermutlich das sexuelle Verlangen zusätzlich mindern. Dennoch gibt es auch ein Review mit Metaanalyse mit insgesamt positiver Bewertung des Wirkstoffs (7).

Kritik an der Zulassung ist in mehrfacher Hinsicht angebracht: Angefangen von der Indikation, deren Existenz als Erkrankung auch von Experten angezweifelt wird, über die äußerst ungünstige Nutzen-Risiko-Relation, fragwürdige Lobbyarbeit des pU (unter anderem durch Unterstützung „feministischer“ Aktionskampagnen, die den Mangel an zugelassenen Arzneimitteln für weibliche Sexualstörungen beklagten) bis hin zur völlig irreführenden Propagierung als „Viagra für die Frau“ durch manche Medien.

Die FDA sah sich offenbar zu einer Darstellung ihres nach eigenen Angaben „schwierigen“ Entscheidungsprozesses und der daran geübten Kritik veranlasst. Sie wurde nun im N. Engl. J. Med. veröffentlicht (8). Die FDA spricht selbst von einem nur „kleinen“ Behandlungsnutzen, von dem „manche Frauen profitieren könnten“ und verlangt umfangreiche Vorgaben in Bezug auf das hohe UAW- und Interaktionsrisiko: verschreibende Ärzte müssen eine Zertifizierung absolvieren, die „Patientinnen“ müssen über Risiken aufgeklärt werden und beide müssen ein „Patient-Provider-Agreement“ unterschreiben. In der Gebrauchsinformation gibt es eine „Boxed Warning“ bezüglich Alkoholkonsum und der ZNS-Beeinträchtigung. Wenn sich innerhalb von 8 Wochen keine Besserung einstellt, wird empfohlen, Flibanserin abzusetzen. Eine verstärkte Pharmakovigilanz wird vorgeschrieben und drei „Post-approval“-Studien gefordert (10, 11). Es bleibt abzuwarten, ob diese jemals durchgeführt werden. Bemerkenswerterweise betont die FDA ausdrücklich, dass sie nicht für Off-Label-Gebrauch zuständig ist und dass die Zulassung nur für die untersuchte Indikation gilt: HSDD bei prämenopausalen Frauen.

Fazit: In den USA wurde ein Arzneimittel zur Behandlung der sogenannten „hypoaktiven Sexualfunktionsstörung“ prämenopausaler Frauen zugelassen. Diese Entscheidung ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar, denn es handelt sich um eine wenig wirksame Substanz mit hohem Nebenwirkungs- und Interaktionspotenzial. Auch die Indikation ist umstritten und wird voraussichtlich einen häufigen Off-Label Use als Lifestyle-Pille nach sich ziehen. Daran ändern auch die vielfältigen Sicherheitsauflagen der Zulassungsbehörde nichts. Es ist zu hoffen, dass Flibanserin in Europa nicht zugelassen wird. Von einer Anwendung – etwa nach Bezug über Internetapotheken – raten wir dringend ab.

Literatur

  1. www.spiegel.de/gesundheit/sex /flibanserin-das-muessen-sie-zum-viagra-fuer-frauen-wissen- a-1048841.html Link zur Quelle
  2. www.focus.de/gesundheit/ ratgeber/sexualitaet/potenz/viagra-fuer-frauen-wie-bedenklich-ist-die- neue-lustpille_id_4932169.html Link zur Quelle
  3. http://www.fda.gov/…Link zur Quelle
  4. Thorp, J., et al.(DAISY): J. Sex. Med. 2012, 9, 793. Link zur Quelle
  5. Derogatis, L.R., et al. (VIOLET): J. Sex.Med. 2012, 9, 1074. Link zur Quelle
  6. Katz, M., et al. (BEGONIA): J. Sex. Med.2013, 10, 1807. Link zur Quelle
  7. Gao, Z., et al.: J. Sex. Med. 2015, 12,2095. Link zur Quelle
  8. Joffe, H.V., et al.:N. Engl. J. Med. 2016, 374, 101. Link zur Quelle
  9. Derogatis, L., et al.:J. Sex. Med. 2008, 5, 357. Link zur Quelle
  10. Banzi, R., et al.: Eur. J.Intern. Med. 2015, 26,572. Link zur Quelle
  11. Dyer, O.: BMJ 2016, 532,i371. Link zur Quelle

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