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Tai Chi versus aerobes Training beim Fibromyalgie-Syndrom

Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist ein funktionelles somatisches Syndrom, das durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen, Müdigkeit sowie körperliche oder geistige Erschöpfungsneigung gekennzeichnet ist (1). Zur Diagnosestellung werden die Klassifikationskriterien des American College of Rheumatology (ACR) empfohlen. Hierzu zählen u.a. auch ein vermehrter Druckschmerz an ≥ 11/18 Punkten („Tender points“; 2). Die Ursachen des FMS sind unklar. Es wird u.a. eine Störung der Schmerzregulation im zentralen und peripheren Nervensystem diskutiert. FMS wird heute meist der Rheumatologie zugeordnet, obwohl es sich nicht um eine chronisch entzündliche Erkrankung handelt. Da FMS sehr häufig mit psychischen Störungen assoziiert ist, wäre seine Behandlung möglicherweise besser in der Psychosomatik aufgehoben, auch um die Patienten vor einer medikamentösen Übertherapie zu schützen. Nicht wenige stellen die Existenz von FMS gänzlich in Frage. Die polemischen Diskussionen hierzu hat der amerikanische Rheumatologe F. Wolfe 2009 in einem Editorial unter „Fibromyalgia wars“ zusammengefasst (3). Nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO wird das FMS unter „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert“ (M79.70) aufgeführt.

Die Therapie des FMS ist in erster Linie nicht medikamentös und besteht aus Schulungen, aerobem Training und mindestens einem psychologischen Verfahren (4). Nach einer systematischen Übersicht aus dem Jahre 2008 führt aerobes Training zu einer signifikanten Verbesserung von Leistung, Schmerzintensität und Druckempfindlichkeit an den „tender points“. Am besten wirkt aerobes Training mit geringer Belastung, wie schnelles Gehen, Radfahren, Schwimmen oder Wassergymnastik (5). Zur Arzneimitteltherapie beim FMS schreibt die deutsche S3-Leitlinie: „Eine medikamentöse Therapie von Fibromyalgie-Beschwerden ist nicht zwingend erforderlich. Im Rahmen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung sollen mit dem Betroffenen der mögliche Nutzen und Schaden von Medikamenten und nicht medikamentösen Therapien in Bezug auf die individuelle Situation besprochen werden“ (6). Genannt werden – innerhalb eines Gesamttherapiekonzepts – Amitriptylin bzw. bei Vorliegen entsprechender psychischer Komorbiditäten auch Duloxetin, Pregabalin, Quetiapin, Citalopram, Fluoxetin und Paroxetin. Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) und Opioide werden explizit nicht empfohlen. Die Versorgungsrealität sieht jedoch anders aus. Nach älteren Daten der Barmer Ersatzkasse aus dem Jahr 2009 erhalten 56% der Betroffenen Psychopharmaka, 48% NSAID und jede(r) Zehnte sogar Opioide. Im Krankenhaus werden bei 60% sogar interventionelle Verfahren wie gelenknahe Injektionen oder Arzneimittel-Infusionen angewendet (7). Darüber hinaus werden verschiedene, nicht evidenzbasierte Verfahren eingesetzt, wie passive Physiotherapie oder das gesamte Spektrum der Alternativmedizin – vom Fasten bis zum Schröpfen.

In einer prospektiven, randomisierten, kontrollierten und für die Untersucher verblindeten Studie wurde nun am Tufts Medical Center in Boston die Wirksamkeit von Tai Chi versus aerobem Training getestet (8). Tai Chi („Schattenboxen“) könnte sich bei FMS besonders günstig auswirken, weil Körperspannung, Atmung und Aufmerksamkeit von zentraler Bedeutung sind und weil es auch von sportlich ungeübten oder sportlich unbegabten Menschen ausgeübt werden kann.

Die Studienteilnehmer führten in Gruppen und unter Anleitung entweder zweimal wöchentlich über 24 Wochen ein aerobes Training durch (60 Minuten Herz-Kreislauf-Training) oder klassisches Yang-Tai Chi. Das Tai Chi wurde in 4 Übungsvarianten getestet: jeweils einmal oder zweimal wöchentlich und über 12 oder 24 Wochen. Darüber hinaus wurden alle Teilnehmer gebeten, zusätzlich tägliche Übungen durchzuführen, auch nach Beendigung der Gruppeninterventionen. Die Patienten wurden durch öffentliche Werbung und Zuweisungen aus Kliniken im Großraum Boston rekrutiert. Die Diagnose Fibromyalgie wurde durch Spezialisten an Hand der Kriterien des ACR überprüft (2).

Primärer Studienendpunkt war die Änderung des FIQR-Scores innerhalb von 24 Wochen (9). Dieses validierte FMS-Instrument erfasst mit einem Fragebogen u.a. Schmerzintensität, Körperfunktionen, den Grad der Müdigkeit, Depression, Angst, oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Die Skala reicht von 0-100, wobei hohe Werte eine höhere Symptomlast bedeuten. Eine Verbesserung um 8 Punkte wird als klinisch relevant angesehen.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 226 Patienten eingeschlossen (gescreent wurden 867). 151 wurden den vier Tai Chi Gruppen und 75 dem aeroben Training zugelost. Die Patienten-Charakteristika waren in den Gruppen sehr ähnlich: Das Durchschnittsalter betrug 52 Jahre, 92% waren Frauen, die durchschnittliche Symptomdauer betrug 9 Jahre. Zu Studienbeginn erhielten 85% der Patienten NSAID, 66% Paracetamol, 51% Narkotika (Opioide!), 58% Antidepressiva, 28% Antikonvulsiva und 29% Benzodiazepine. Die Teilnehmer der Tai-Chi-Gruppen absolvierten durchschnittlich 62% und die in der aeroben Trainingsgruppe 40% der angebotenen Kurse.

Von 81% der Teilnehmer lag ein Ergebnis der Nachuntersuchung nach 12 Wochen vor, nach 24 Wochen bei 80% und nach einem Jahr bei 70%. Es zeigte sich nach 24 Wochen in allen fünf Behandlungsgruppen eine Besserung des FIQR-Scores (Ausgangswert 56 Punkte): mit aerobem Training um 9,2 Punkte, mit Tai Chi (alle Gruppen) um 16,2 Punkte. Die Differenz zwischen Sport und Tai Chi war signifikant (95%-Konfidenzintervall = CI: 0,6-10,4; p = 0,03). Auch bei den sekundären Endpunkten (Gesamtbefinden, Angst, Selbstwirksamkeit und Krankheitsbewältigung) schnitt Tai Chi besser ab als aerobes Training. Dabei scheinen die Effekte von der Häufigkeit und Dauer der Übungen abzuhängen. Die größte Verbesserung der Symptome (um 22,7 Punkte) erzielte die Gruppe mit zweimal wöchentlich Tai Chi über 24 Wochen.

Auch nach 52 Wochen zeigte sich ein Vorteil von Tai Chi gegenüber aerobem Training, um 11,1 Punkte beim FIQR-Score (CI: 2,7-19,6; p = 0,01). Leider wird in der Publikation nicht erwähnt, wie viele der Patienten die Übungen nach Beendigung der Kurse selbstständig weitergeführt haben. In allen Gruppen wurden in fast gleichem Ausmaß Arzneimittel reduziert.

Fazit: Fibromyalgie ist ein komplexes Syndrom, das multimodal mit Schulungen, aerobem Training und mindestens einem psychologischen Verfahren behandelt werden soll. Eine medikamentöse Therapie wird primär nicht empfohlen, allenfalls unterstützend bei bestimmten Komorbiditäten. Nach einer prospektiven kontrollierten Studie scheint regelmäßiges Tai Chi die Symptome besser zu lindern als aerobes Training. Besonders wirksam scheinen zwei Übungseinheiten pro Woche à 60 Minuten über mindestens 24 Wochen zu sein.

Literatur

  1. Eich, W., et al.: Schmerz 2017, 31, 231. Link zur Quelle
  2. Wolfe, F., et al.: Arthritis Care Res. (Hoboken) 2010, 62, 600. Link zur Quelle
  3. Wolfe, F.: J. Rheumatol. 2009, 36, 671. Link zur Quelle
  4. Schiltenwolf, M., et al.: Schmerz 2017, 31, 285. Link zur Quelle
  5. Busch, A.J., et al.: J. Rheumatol. 2008, 35, 1130. Link zur Quelle
  6. Sommer, C., et al.: Schmerz 2017, 31, 274. Link zur Quelle
  7. Zylka-Menhorn, V.: Dtsch. Arztebl. 2010, 107, A-2312. Link zur Quelle
  8. Wang, C., et al.: BMJ 2018, 360, k851. Link zur Quelle
  9. Bennet, R.M., et al.: Arthritis Res. Ther. 2009, 11, R120. Link zur Quelle