„Mobile Health“: Vorhofflimmern mit einer kommerziellen Smartwatch erkennen
„Wearables“ sind kleine Computer, die am Körper des Benutzers getragen werden oder in dessen Kleidung integriert sind. Sie werden zunehmend zur Überwachung von Körperfunktionen genutzt, beispielsweise als „Fitness-Tracker“. Über verschiedene integrierte Sensoren (Photoplethysmographie, Schrittzähler, Beschleunigungsmesser) lassen sich Daten zur körperlichen Aktivität, dem Puls oder sogar ein 2-Kanal-EKG ableiten. Die erfolgreichsten Wearables sind Smartwatches, die wie eine Uhr am Handgelenk getragen werden. Es wird geschätzt, dass 2018 weltweit nahezu 50 Mio. Smartwatches verkauft werden (1).
Nun gibt es Initiativen, über Smartwatches ein Massenscreening auf Vorhofflimmern (VHF) durchzuführen. Da VHF bei ca. zwei Dritteln der Betroffenen asymptomatisch verläuft (2), dies jedoch trotzdem mit einem 2-3fach erhöhten Thromboembolierisiko einhergeht (3), könnte ein früher Nachweis von VHF die Möglichkeit einer Primärprävention mit oralen Antikoagulanzien ermöglichen und das Risiko eines Schlaganfalls vermindern – so die Argumentation der Befürworter des VHF-Screenings. Die bisher beste Lösung, asymptomatisches VHF zu entdecken, sind unter der Haut implantierte Eventrecorder. Daten aus der XPECT-Studie zeigen, dass mit einem solchen Device VHF, das ≥ 2 Minuten dauert, mit einer Sensitivität von 96,1% und einer Spezifität von 85,4% erfasst werden kann (4). Nachteile dieser Technologie sind hohe Kosten, Invasivität und begrenzte Batterielaufzeit (ca. 36 Monate).
Das Erkennen von VHF mit einer Smartwatch böte viele Vorteile: Das Device ist weit verbreitet, es ist vergleichsweise günstig und vor allem nicht invasiv. Die technischen Herausforderungen sind jedoch groß. Sie bestehen einerseits darin, riesige Datenmengen zu bewältigen und andererseits die vielen Artefakte als solche zu erkennen und herauszufiltern. Eine Alternative zu den von Menschen programmierten Erkennungsalgorithmen sind die sog. tiefen neuronalen Netzwerke. Hierbei handelt es sich um eine digitale Methode der künstlichen Intelligenz. Die Rechner lernen an Hand riesiger Datensätze komplexe Signale wie Sprache, Bilder oder auch Pulskurven zu erkennen und von Fehlsignalen (Rauschen) zu unterscheiden. Mit Hilfe dieser Technologie können Computer mittlerweile recht zuverlässig z.B. eine diabetische Retinopathie oder auch Hautkrebs erkennen (5).
Eine kalifornische Firma, die von zwei ehemaligen Google-Mitarbeitern gegründet wurde, hat nun ein solches tiefes neuronales Netzwerk zur automatischen Erkennung von VHF aus Smartwatch-Daten entwickelt. Die Evaluierung dieser Software erfolgte in Zusammenarbeit mit der Universität von Kalifornien und wurde im JAMA Cardiology publiziert (6). Vier der 14 Studienautoren sind Mitarbeiter der Softwarefirma, zwei der akademischen Autoren haben finanzielle Verbindungen zu ihr. Zur Herzfrequenz-Erfassung wurde eine handelsübliche Apple-Watch verwendet und zur EKG-Erkennung eine frei erhältliche Mobilanwendung (Cardiogram©-App). Die von der Smartwatch ermittelten Daten wurden von der App in ein tiefes neuronales Netzwerk übertragen. Die Messungen erfolgten während der Tagesaktivität kontinuierlich und in Ruhephasen alle 5 Minuten.
Zum Erlernen wurden in das neuronale Netz die Messdaten von 6.682 Freiwilligen aus der sog. „Health eHeart Study“ übermittelt. Dies ist eine „Big Data“-Online-Kohortenstudie zu kardiovaskulären Erkrankungen, die von der Universität von Kalifornien koordiniert wird. Teilnehmer an dieser Studie wurden kontaktiert und um Mitwirkung gebeten. Voraussetzung war, dass sie eine Apple-Watch mit der entsprechenden App besaßen und mit der Analyse ihrer EKG-Daten einverstanden waren.
Insgesamt wurden anonymisierte Messdaten aus 57.675 Personenwochen verwendet. Gemessen wurden die Regelmäßigkeit der absoluten Differenzen zwischen aufeinander folgenden EKG-Impulsen (RR-Intervalle) über verschiedene zeitliche Intervalle (5 Sekunden bis 30 Minuten). Zum Erkennen und Erlernen von VHF wurden die Daten von einer sog. Kardioversions-Kohorte erhoben. Hierbei handelte es sich um 50 konsekutive Patienten mit VHF, die an der Universitätsklinik für Kardiologie in San Francisco für eine Kardioversion vorgestellt wurden. Allen diesen Patienten mit gesichertem VHF wurde vor der Kardioversion eine Smartwatch angelegt, und die gewonnenen VHF-Muster wurden in das neuronale Netzwerk übertragen. In einem zweiten Evaluierungsschritt wurde das System dann bei 1.617 ambulanten Probanden aus der „Health eHeart Study“ getestet. 64 Teilnehmer (4%) gaben an, ein persistierendes VHF zu haben. Die Diagnose wurde mit Hilfe einer Smartphone-basierten EKG-Aufzeichnung über zwei externe Elektroden gesichert.
Ergebnisse: Das VHF wurde in der Kardioversionskohorte recht zuverlässig erkannt. Die Sensitivität betrug 98%, die Spezifität 90,2%, der positiv prädiktive Wert 90,9, der negativ prädiktive Wert 97,8. Wesentlich schlechter fielen die Qualitätsparameter bei der ambulanten Kohorte aus. Hier betrug die Sensitivität 67,7%, die Spezifität 67,6%, der positiv prädiktive Wert 7,9, und der negativ prädiktive Wert 98,1. Der positiv prädiktive Wert ist so gering, weil die Prävalenz von VHF niedrig ist. Würde man das System tatsächlich, wie von den Autoren vorgeschlagen, zum Massenscreening anwenden, würde dies zu einer großen Zahl falscher Alarme führen mit allen möglichen denkbaren Konsequenzen (Verunsicherung der Patienten, unnötige Beanspruchung von Gesundheitsdienstleistungen, Übertherapie).
In seinem Editorial mit dem Titel „Moving From Big Data to Deep Learning“ schreibt der Mitherausgeber von JAMA Cardiology, Mintu Turakhia aus Stanford, dass die Menschen in 100 Jahren auf diesen Moment der Medizingeschichte als „wegweisende Zäsur“ zurückschauen werden. Die Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz würden durch immer bessere Lernprozesse immer weiter wachsen, so dass die Vision einer ständigen gesundheitlichen Überwachung des Individuums auch medizinisch sinnvoll sein wird (7). Er verweist auf die laufende „Apple Heart Study“, deren Principal investigator er selbst ist (8). Ziel dieser prospektiven Studie ist ebenfalls die automatisierte Erkennung von Herzrhythmusstörungen mit Hilfe einer Smartwatch. An dieser prospektiven Studie nehmen 500.000 Träger einer Applewatch teil.
Die möglichen Probleme mit diesen neuen Technologien werden im Editorial auch angesprochen. Jede(r) Anwender(in) müsse entscheiden, ob man diese Technologie tatsächlich zum Screening oder allein zum Krankheits- oder Selbst-Management einsetze. Wer ist willens und in der Lage, das fachliche Feed-back zu liefern? Wer haftet für Fehlinterpretationen? Wer gewährleistet die Datensicherheit, zumal die Apps ja oft miteinander kommunizieren?
Fazit: Tiefe neuronale Netzwerke können medizinische Daten, beispielsweise aus verschiedenen Wearables eigenständig verarbeiten und hieraus (Verdachts-) Diagnosen stellen. Dies konnte an Hand des Erkennens von Vorhofflimmern mit einer handelsüblichen Smartwatch gezeigt werden. Der positiv prädiktive Wert dieser Systeme ist jedoch (noch) sehr gering. Ein Massenscreening ist daher abzulehnen. Die Entwicklungen im Bereich Mobile Health (mHealth) erfordern eine klare Positionierung von den medizinischen Fachverbänden und vom Gesetzgeber.
Literatur
- https://de.statista.com/… (Zugriff am 12.4.2018). Link zur Quelle
- Strickberger, S.A., et al.: Heart Rhythm 2005, 2, 125. Link zur Quelle
- Barbarossa, A., et al.: J. Atr. Fibrillation 2014, 7, 1138. Link zur Quelle
- Hindricks, G., et al. (XPECT = Reveal® XT Performance Trial): Circ. Arrhythm. Electrophysiol. 2010, 3, 141. Link zur Quelle
- Esteva, A., et al.: Nature 2017, 542, 115. Link zur Quelle Erratum: Nature 2017, 546, 686.
- Tison, G.H., et al.: JAMA Cardiol. published online March 21, 2018: doi:10.1001/jamacardio.2018.0136 (Zugriff 12.4.2018). Link zur Quelle
- Turakhia, M.P.: JAMA Cardiol. published online March 21, 2018. doi:10.1001/jamacardio.2018.0207 (Zugriff 15.4.2018). Link zur Quelle
- AHS = Apple Heart Study: Link zur Quelle (Zugriff 15.4.2018).