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Partizipative Entscheidungsfindung auch in der Psychiatrie erwünscht

In einem lesenswerten Standpunkt („Viewpoint“) im JAMA Psychiatry fordern Psychiater aus den USA eine Abkehr vom etablierten paternalistischen Modell der Entscheidungsfindung in der Psychiatrie und eine Hinwendung zum Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung (PEF; engl.: „shared decision making“; 1). Die PEF wird von der National Academy of Medicine (NAM) in den USA und dem National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannien heute als Goldstandard für die Patient-Arzt-Beziehung angesehen (2, 3).

Die Grundprinzipien einer PEF sind (modifiziert nach 1):

(1) Abbau bzw. Beseitigung von „Machtasymmetrien“ zwischen dem behandelnden Arzt und dem Patienten mit dem Ziel zu akzeptieren, dass es mindestens zwei gleichberechtigte Teilnehmer bei einer Behandlungsentscheidung gibt, nämlich den Patienten mit seiner persönlichen Lebens- und Krankheitserfahrung und den Behandelnden mit seinem professionellen Wissen und seiner Empirie;

(2) Ermittlung der Präferenz der Patientin/des Patienten bei der Behandlungsentscheidung (autonom, gemeinsam mit den Behandelnden, Übertragung der Entscheidung an die Behandelnden) und ihren Werten und Wünschen, die die Entscheidung leiten könnten, beispielsweise möglichst wenige oder niedriger dosierte Psychopharmaka oder Reduzierung von Nebenwirkungen;

(3) Aufzeigen und Besprechen von mindestens zwei, möglichst evidenzbasierten Behandlungsoptionen. Dabei Darstellung ihrer Vor- und Nachteile, möglichst unter Verwendung verständlicher und inhaltlich ausgewogener Aufklärungsmaterialien. Erfragen weiterer Behandlungsoptionen aus Sicht der Patientin/des Patienten;

(4) Möglichst gemeinsame (partizipative) Entscheidung als Ergebnis der Vorgehensweise nach den Punkten 1-3; dabei aber auch die Akzeptanz der Behandelnden, wenn die Entscheidung des Patienten im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts eine andere ist;

(5) Dokumentation der Entscheidung und der damit verbundenen Risiken. Erstellen eines Behandlungsplans; evtl. Anfertigung eines Behandlungsvertrags oder einer Patientenverfügung.

Nach Einschätzung der American Psychiatric Association ist die PEF auch bei Personen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, und sie kann auch bei ihnen zu besseren Behandlungsergebnissen führen (4). Allerdings gebe es eine Vielzahl patienten-, klinik- und systembezogener Hindernisse für eine PEF in der Psychiatrie.

Als ein wesentliches Hindernis für die PEF in der Psychiatrie werden die behandelnden Ärzte genannt. Daher sind sie auch primärer Adressat der Publikation. Ärztinnen und Ärzte seien oft davon überzeugt, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht über eine ausreichende Entscheidungsfähigkeit verfügen, weil sie bedeutsame kognitive Defizite hätten und unzureichend motiviert seien, an einem solchen Prozess mitzuwirken. Dies sind nach Auffassung der Autoren (Vor-)Urteile, die zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führen.

Als weiteres, sehr bedeutsames Hindernis wird die in der Psychiatrie besonders ausgeprägte Machtasymmetrie zwischen Behandelnden und Patienten genannt. Die Tatsache, dass Psychiater Zwangsbehandlungen und unfreiwillige Krankenhausaufenthalte veranlassen können, impliziert dies. Die Patienten haben Angst, ihre Freiheit, staatliche Leistungen oder soziale Unterstützung zu verlieren, wenn sie nicht mit ihren Ärzten konform gehen.

Zur Implementierung der PEF empfehlen die Autoren, die Thematik und die Technik der Vorgehensweise in die Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu integrieren. Die genannten Vorurteile und Stigmatisierungen müssten abgebaut und die für die PEF notwendigen Fertigkeiten erworben werden. Ärztinnen und Ärzte müssten lernen, auch Entscheidungen mitzutragen, mit denen sie nicht einverstanden sind. Es seien evidenzbasierte Entscheidungshilfen für Psychiatrie-spezifische Interventionen erforderlich und spezielle psychiatrische Patientenverfügungen. Mit solchen Vereinbarungen könnten ggf. auch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen reduziert werden und eine unfreiwillige, erzwungene Entscheidung in eine gemeinsame umgewandelt werden.

Grundsätzlich sei noch sehr viel Forschung zum Thema PEF erforderlich, insbesondere in der Psychiatrie und bei Personen mit eingeschränkten kognitiven Möglichkeiten. Die Autoren kennen jedoch keine aktuellen Forschungsprojekte, die sich mit dieser wichtigen Frage beschäftigen.

Der PEF wird nach unserer Einschätzung auch in vielen anderen Bereichen der Medizin noch zu wenig Beachtung geschenkt, wenngleich dieses Vorgehen zunehmend berücksichtigt wird, wie z.B. in Behandlungsleitlinien zum chronischen Vorhofflimmern (vgl. 5). Gerade bei chronischen Erkrankungen, Krebserkrankungen, Multimorbidität und im fortgeschrittenen Alter kann die PEF einen wichtigen Beitrag zur Begrenzung der Therapie und größeren Zufriedenheit der Patienten leisten.

Zur breiteren Umsetzung der PEF in die Praxis wird jedoch neben dem Umdenken auch eine der kostbarsten Ressourcen in der Medizin benötigt: viel mehr Zeit für das Arzt-Patient-Gespräch.

Literatur

  1. Zisman-Ilani, Y., et al.: JAMA Psychiatry 2021. Published online August 18. Link zur Quelle
  2. Alston, C., et al.: National Academy of Medicine. September 18, 2014. Link zur Quelle
  3. https://www.nice.org.uk/about/ what-we-do/our-programmes/ nice-guidance/nice-guidelines/shared- decision-making Link zur Quelle
  4. Keepers, G.A., et al.: Am. J. Psychiatry 2020, 177, 868. Link zur Quelle
  5. AMB 2014, 48, 35. Link zur Quelle