Bei der APL, die etwa 5 bis 10% der akuten myeloischen Leukämien (AML) ausmacht, findet sich in nahezu 100% der Fälle eine reziproke Translokation zwischen den Chromosomen 15 und 17. Als Folge dieser strukturellen chromosomalen Veränderung kommt es zur Fusion von 2 Genen, die auf Chromosom 15 („promyelocytic leukemia“, PML) bzw. auf Chromosom 17 (Retinoinsäure-a
-Rezeptor, RARá ) liegen. Diese chimären Gene kodieren ein abnormes Fusionsprotein (PML-RARa), das die Proliferation und Differenzierung unreifer myeloischer Vorläuferzellen beeinflußt und dadurch eine entscheidende Rolle in der Pathogenese der APL spielt. Untersuchungen zu den molekularen Veränderungen bei APL haben wesentlich dazu beigetragen, die Wirksamkeit von ATRA (Tretinoin) in der Behandlung dieses Subtyps der AML besser zu verstehen. Heute geht man davon aus, daß die entscheidende Wirkung von ATRA die Degradation des abnormen Fusionsproteins PML-RARá und die daraus resultierende Ausdifferenzierung leuk?mischer Vorläuferzellen zu reifen neutrophilen Granulozyten darstellt.
Die Wirksamkeit von ATRA ist bisher bei mehr als 700 Patienten mit APL analysiert worden (vgl. AMB 1992, 26, 111). In einer größeren randomisierten französischen Studie war ATRA, gefolgt von konventioneller Chemotherapie der alleinigen Chemotherapie hinsichtlich ereignisfreien Überlebens und Gesamtüberlebens signifikant überlegen (Fenaux, P., et al.: Blood 1993, 82, 3241). Eine weitere randomisierte Studie aus den USA, deren Ergebnisse jetzt von Tallmann, M.S., und Mitarbeitern publiziert wurden (N. Engl. J. Med. 1997, 337; 1021), verglich die Wirksamkeit von ATRA sowohl in der Induktions- als auch Erhaltungstherapie mit einer konventionellen Chemotherapie. Insgesamt 346 Patienten mit unbehandelter APL erhielten nach Randomisierung entweder ATRA (45 mg/m2/d) oder eine Chemotherapie mit Daunorubicin plus Cytarabin. ATRA wurde bis zum Erreichen einer kompletten Remission (CR) oder maximal 90 Tage verabreicht. Patienten, die eine CR erreichten, erhielten 2 Zyklen einer Konsolidierungstherapie, wobei der 1. Zyklus der lnduktions-Chemotherapie entsprach und im 2. Zyklus hochdosiertes Cytarabin plus Daunorubicin gegeben wurde. Patienten, die nach dieser Konsolidierungstherapie weiter in CR waren, erhielten nach erneuter Randomisierung entweder eine Erhaltungstherapie mit ATRA (45 mg/m2/d ein Jahr lang) oder keine weitere Therapie. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. die CR-Rate unterschied sich nicht signifikant zwischen den beiden Therapiearmen (ATRA: 72% vs. Chemotherapie: 69%); 2. auch hinsichtlich der Frühtodesfälle (innerhalb der ersten 28 Tage nach Therapiebeginn) ergaben sich keine Unterschiede (ATRA: 11% vs. Chemotherapie: 14%); 3. bei Patienten, die in der lnduktionstherapie ATRA erhalten hatten, war das erkrankungsfreie Überleben nach 1, 2 bzw. 3 Jahren signifikant besser als bei Patienten mit konventioneller Chemotherapie (87%, 70%, 67% vs. 57%, 43%, 32%, p < 0,001); 4. auch die Gabe von ATRA in der Erhaltungstherapie führte zu einer Verbesserung der Prognose im Vergleich zu keiner weiteren Therapie (Rate des erkrankungsfreien Überlebens nach 1, 2, 3 Jahren: 82%, 68%, 65% vs. 53%, 40%, 40%, p < 0,001); 5. das gefürchtete ATRA-Syndrom (Fieber, respiratorische lnsuffizienz, Pleuraergüsse, Hypotension, meistens verbunden mit Anstieg der Leukozyten) wurde in der Induktionstherapie bei 26% der Patienten beobachtet. Bemerkenswerterweise traten bei 34 von 94 Patienten, die ATRA als Erhaltungstherapie erhalten hatten, schwere Nebenwirkungen in Form von Neurotoxizität, Infektionen und Hepatotoxizität auf, die bei 14 Patienten zum vorzeitigen Abbruch der ATRA-Gabe führten. Fazit: Die Gabe von ATRA als Induktions- und Erhaltungstherapie verbessert das Gesamt- und erkrankungsfreie Überleben von Patienten mit APL im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie. Ob eine simultane Gabe von ATRA und Zytostatika in der lnduktionstherapie die Ergebnisse weiter verbessert und welche Zytostatika am besten mit ATRA in der Induktions- bzw. Konsolidierungstherapie kombiniert werden, untersuchen derzeit laufende multizentrische Studien.