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Einfluß der Patientenerwartung, ein Rezept zu erhalten, auf die Verschreibungspraxis

Jeder weiß, wie schwer es in der Praxis ist, einem Patienten, der auf eine Medikamentenverschreibung hofft, diese zu verweigern, wenn sie nicht indiziert scheint. Die Verschreibung eines Medikaments geht wesentlich schneller als ein mitunter mühsames Gespräch, in dem der Patient von der Harmlosigkeit und Selbst-Limitiertheit seiner Beschwerden überzeugt werden muß. Andererseits führt die häufige Erfüllung nicht gerechtfertigter Verschreibungswünsche zum Eintrainieren eines sozial unerwünschten und das Gesundheitsbudget belastenden Patientenverhaltens, das nicht gefördert werden darf. Dieses Problem ist offenbar weltweit identisch. N. Britten und O. Ukoumunne, Medizinstatistiker aus London (Brit. Med. J. 1997, 315, 1506), versuchten, dem Problem des Einflusses von Patientenerwartungen auf die Häufigkeit von Rezeptverschreibungen quantitativ nachzugehen. In 15 verschiedenen Allgemeinpraxen im Süden von London interviewten sie 526 Patienten im Wartezimmer mit Hilfe einfacher Fragebögen im Hinblick auf die Erwartung, ein Rezept zu erhalten. Im Anschluß an die Konsultation mußte der Arzt einen kurzen Fragebogen ausfüllen, in dem er mitteilen sollte, ob er ein Rezept ausgestellt habe und ob er die Verschreibung für medizinisch strikt indiziert gehalten habe. Insgesamt waren 839 Patienten gebeten worden, an diesem Interview teilzunehmen, von denen aber nur 65% zustimmten.

67% der Patienten hofften, ein Rezept zu erhalten. In 56% glaubte der Arzt zu erkennen, daß der Patient einen Rezeptwunsch hatte. Er schrieb in insgesamt 59% ein Rezept aus. Obwohl der Prozentsatz der Patienten, die ein Rezept erwarteten und derer, die es bekamen, recht ähnlich war, waren die Gruppen nicht identisch. 25% der Patienten, die ein Rezept haben wollten, bekamen keines. Bei 22% der Patienten, bei denen Rezepte ausgestellt wurden, wurden sie vom Arzt als nicht strikt medizinisch indiziert eingeordnet. Der wichtigste Faktor, der in solchen Fällen zum Ausstellen eines Rezepts verleitete, war der geäußerte Wunsch des Patienten, oft verbunden mit dem Eindruck des Arztes, er werde unter Druck gesetzt.

Die Untersuchung bestätigt die subjektive Gewißheit vieler Ärzte, daß Verordnungen von Medikamenten nicht immer streng auf dem Boden einer „Evidence based medicine“ erfolgen. Jede Verschreibung hat einen immanenten Plazebo-Effekt. Besonders schwierig ist es offenbar, bei einem Patienten mit starker Verschreibungserwartung das Rezept durch ein überzeugendes Gespräch zu ersetzen, wenn die Verschreibung für nicht indiziert gehalten wird. Wenn dieser Wunsch mit einer gewissen Nötigungskomponente verbunden ist, wird die Standhaftigkeit des Arztes oft überfordert. Der ärztliche Wunsch, den Patienten nicht zu sehr zu enttäuschen und die Befürchtung, ihn als Patienten zu verlieren, dürften hier Hauptmotive sein. Unbefriedigend an dieser Studie bleibt die Tatsache, daß die Einschätzung einer Verschreibung als nicht streng indiziert, lediglich auf der Ansicht des verschreibenden oder nicht verschreibenden Arztes, nicht jedoch auf einer unabhängigen Überprüfung beruhte. An einer solchen erweiterten Studie hätten aber vermutlich wenige Ärzte teilgenommen. Der Artikel wird im gleichen Heft des Brit. Med. J. (1997, 315, 1482) von T Greenhogh und P. Gill kommentiert, wobei weitere wichtige Literaturstellen zum Thema Verschreibungsverhalten angeführt werden.

Fazit: Ein erheblicher Teil von Medikamentenverordnungen in Allgemeinpraxen ist nicht streng medizinisch indiziert. Hauptmotiv für die Ausstellung solcher Rezepte ist der Wunsch des Patienten, ein Rezept zu erhalten, oft verbunden mit einem erheblichen psychischen Druck auf den Arzt. Aber auch ein solches Rezept kann „heilsam“ sein (s. Plazebo-Diskussion AMB 1995, 29, 73).