Frage von Dres. J.B. und C.J. aus Bad Elster: >> Wir bitten um eine Stellungnahme zur SeIen-Therapie bei Patienten mit onkologischen Erkrankungen (Stabilisierung des Immunsystems, Verminderung von Leuko-/Thrombopenie, Reduzierung des Lymphödems). << Antwort: >> Die Einnahme hoher Dosen von Vitaminen (z.B. Vitamin A, C oder E) bzw. Mineralstoffen (z.B. Selen) durch Patienten mit Tumorerkrankungen beruht in der Regel auf einem Mißverständnis. Aufgrund epidemiologischer Studien kann heute davon ausgegangen werden, daß antioxidativ wirksame Vitamine und Spurenelemente eine Bedeutung für die Prävention von Tumorerkrankungen besitzen. In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse der kürzlich publizierten, ersten doppeltblinden, randomisierten und plazebokontrollierten Studie zur präventiven Wirksamkeit von Selen bei Patienten mit malignen Hauttumoren von Interesse (Clark, L.C., et al.: JAMA 1996, 276, 1957). Die zusätzliche tägliche Gabe von 200 µg Selen führte nicht zu einer Reduktion der Inzidenz von Basaliomen oder Plattenepithelkarzinomen bei Patienten mit bekannten malignen epithelialen Hauttumoren in der Vorgeschichte, jedoch zu einer signifikanten Verminderung der Inzidenz von Lungen-, Prostata- und kolorektalem Karzinom und Gesamtletalität infolge Tumorerkrankungen. Vor entsprechenden Empfehlungen zur Selensubstitution fordern die Autoren der Studie jedoch zunächst die Bestätigung dieser Ergebnisse durch eine weitere kontrollierte klinische Studie.
Ergebnisse, die eine Wirksamkeit der genannten Vitamine bzw. des Selens in der Behandlung von Tumorerkrankungen zeigen, liegen jedoch nicht vor, und Selen wird deshalb heute zu den Medikamenten mit ungeprüfter Wirkung in der Onkologie gerechnet. Die wenigen bisher vorliegenden Ergebnisse aus epidemiologischen Studien haben gezeigt, daß das Risiko an gastrointestinalen Tumoren, insbesondere am Magenkarzinom zu erkranken, umgekehrt proportional zur geschätzten Aufnahme an Selen und den Selen-Plasmakonzentrationen ist. Da Selen antioxidativ wirkt, wurde in den epidemiologischen Studien zumeist die Kombination mit Vitamin E und A untersucht.
Klinische Studien, die die Wirksamkeit von Selen in den von Ihnen angesprochenen Indikationen bei Patienten mit onkologischen Erkrankungen analysiert haben, liegen nicht vor. Aufgrund tierexperimenteller Untersuchungen, die nach Vorbehandlung mit Selen eine selektive Protektion gegen Cisplatin-induzierte Nephrotoxizität beobachteten, wurde möglicherweise von den Protagonisten der Selen-Therapie auch eine Zytoprotektion gegen andere Nebenwirkungen (z.B. Leuko-/Thrombopenie) von bestimmten Chemotherapeutika abgeleitet. Im Unterschied zum reduzierten Glutathion (s. AMB 1996, 30, 31) bzw. einer anderen schwefelhaltigen Verbindung, Amifostin (s. AMB 1997, 31, 6b), existieren für Selen jedoch keine kontrollierten klinischen Studien, die eine Zytoprotektion gegen spezielle Chemotherapeutika belegen. Dies trifft auch für die Stabilisierung des lmmunsystems bzw. Reduzierung des Lymphödems zu, wobei diese Indikationen aufgrund des oben erwähnten antioxidativen Wirkungsmechanismus von Selen sehr abwegig erscheinen. <<