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Objektives über Sildenafil (Viagra), das angebliche Wundermittel gegen erektile Impotenz

In den letzten Wochen berichteten viele Tageszeitungen und Magazine über Viagra, das neue, oral wirksame Wundermittel der Firma Pfizer („Pfizer Riser“) gegen erektile Impotenz. Auch im Internet sind Informationen darüber abzurufen. Unter anderem wurde es von Bob Dole, dem Verlierer der letzten US-amerikanischen Präsidentenwahl, der nach einer Prostataoperation Erektionsprobleme hatte und zu den ersten Anwendern gehörte, öffentlich gelobt.

Der generische Name von Viagra ist Sildenafil. Sildenafil ist ein Hemmer der Phosphodiesterase Typ 5, einem lsoenzym, das spezifisch den Abbau von zyklischem Guanosinmonophosphat (cGMP) hemmt. Bei sexueller Erregung wird im Corpus cavernosum penis als Folge neuraler Stimuli Stickstoffmonoxid (NO) freigesetzt, das wiederum die Bildung von cGMP stimuliert. cGMP verursacht eine Relaxation der glatten Muskulatur des Corpus cavernosum, wodurch es zu vermehrtem Einstrom von Blut und damit zur Erektion kommt. Einer erektilen Dysfunktion (ED) können organische Ursachen zugrunde liegen, wie z.B. diabetische Neuropathie oder hochgradige Arteriosklerose der zuführenden Arterien, aber auch psychogene. Bei Testosteronmangel (primärer oder sekundärer Hypogonadismus) ist die erektile Dysfunktion meistens mit Libidomangel verbunden.

Nachdem schon Monate zuvor die Laien- und Boulevardpresse Viagra bekannt gemacht hatten („Potenzpille“), berichteten nunmehr im N. Engl. J. Med (1998, 338, 1397) I. Goldstein et al. für die Sildenafil Study Group über die Ergebnisse zweier umfangreicher, plazebokontrollierter Studien zur Wirkung von Sildenafil bzw. Plazebo bei insgesamt 861 Männern zwischen 20 und 87 Jahren. Die Ursachen der ED wurden nur teilweise abgeklärt (z.B. Duplex-Sonographie des Penis, endokrine Tests usw.). Bei 60 bis 70% der Männer wurde eine organische Ursache festgestellt, während bei 10 bis 20% von einer psychogenen ED und bei 13 bis 31% von einer gemischten organisch-psychogenen Dysfunktion gesprochen wurde. Wichtig ist, daß sich diese Männer hinsichtlich Libido offenbar nicht von der Durchschnittspopulation mit gleicher Altersverteilung unterschieden. Dies macht es auch unwahrscheinlich, daß viele Patienten mit endokrinen Störungen (niedriges Testosteron) eingeschlossen wurden.

In einer ersten Dosis-Wirkungs-Studie nahmen 316 Männer 24 Wochen lang 25 bzw. 50 bzw. 100 mg Sildenafil jeweils etwa eine Stunde (aber nicht mehr als einmal täglich) vor dem gewünschten Geschlechtsverkehr ein; 216 Männer nahmen Plazebo. Sie konnten die Zahl der Tabletten je nach Wirkung von Woche zu Woche bis auf 4 steigern (d.h. maximal 100 mg Sildenafil oder 4 Tabletten Plazebo). Am Ende der 24 Wochen nahmen 2% der Verum-Gruppe 25 mg, 23% 50 mg und 74% 100 mg Sildenafil ein. In der Plazebo-Gruppe nahmen 95% der Männer die Höchstdosis (4 Tabletten) ein. Der Grad der ED wurde über einen von internationalen Gesellschaften akkreditierten Fragebogen ermittelt. Die wichtigsten Fragen waren die nach der Vollständigkeit der Erektion, der Fähigkeit, den Geschlechtsverkehr zu beginnen und ihn mit Befriedigung zu beenden. Es ergab sich, daß sich diese erfragten Qualitäten in der Verum-Gruppe deutlich dosisabhängig verbesserten, während Plazebo keine oder minimale Wirkung hatte. In einer zweiten 12 Wochen dauernden Studie nahmen 163 Männer Sildenafil bzw. 166 Männer Plazebo. Die Sildenafil-Dosis war auf 50 mg festgesetzt. Sie durfte bei Bedarf verdoppelt oder bei zu starker Wirkung auf 25 mg reduziert werden. Die Ergebnisse in dieser Studie waren ebenfalls sehr deutlich. Im Punkte-Score, der die ED betraf, besserten sich diese Qualität um 100% und ebenfalls die „Zufriedenheit“ mit dem Sexualakt.

Als Nebenwirkungen traten – als Ausdruck der nicht nur auf den Penis beschränkten Wirkung des Vasodilatators cGMP – bei jeweils über 5% der Patienten Kopfschmerzen, Hautrötung, Rhinorrhö, Verdauungs- und Sehstörungen (veränderte Farbwahrnehmung) auf. Einige Patienten schieden deshalb aus der Studie aus. Gravierende Nebenwirkungen, insbesondere lang anhaltender Priapismus, wurden nicht beobachtet. Letzteres ist damit zu erklären, daß Sildenafil nur dann zur Erektion führt, wenn sie durch sexuelle Stimulation ausgelöst wird. Sildenafil ist also kein Aphrodisiakum. In einem begleitenden Editorial von R.D. Utiger; einem Mitherausgeber des N. Engl. J. Med. (1998, 338, 1458) wird Sildenafil als wahrscheinlicher therapeutischer Fortschritt gewürdigt. Es wird jedoch davor gewarnt, die Diagnostik der Ursachen der ED zu vernachlässigen. Ein möglicher Mißbrauch könnte auch die Einnahme dieses Medikaments durch Männer sein, die gar keine ED haben, sondern eine Hyperfunktion anstreben.

Ob die passageren Sehstörungen wirklich harmlos sind, wird sich herausstellen. Sie beruhen wahrscheinlich darauf, daß Sildenafil auch in geringem Maße die Phosphodiesterase Typ 6 hemmt, die in der Retina vorkommt. In einigen Zeitungen wurde bereits geunkt: „Manche Männer werden möglicherweise den Erfolg von Viagra selbst gar nicht sehen können“ oder „Liebe macht blind“. Problematisch ist auch die Einnahme von Sildenafil bei Patienten, die Nitro-Präparate einnehmen, da ihre Wirkung verstärkt bzw. verlängert werden kann und Blutdruckabfall möglich ist. In naher Zukunft werden nach dem „Me-too-Prinzip“ der Pharmahersteller sicher weitere Substanzen auf den Markt kommen, vielleicht mit längerer Wirkung und geringeren Nebenwirkungen und natürlich auch für Frauen.

Andere wichtige Fragen sind zu beantworten. Ist die ED nur eine unangenehme Beeinträchtigung des „Lifestyle“ oder eine behandlungsbedürftige Krankheit? Ist sie eine Krankheit, werden die Krankenkassen dann auch für die immensen Kosten dieser Behandlung aufkommen müssen? Schätzt man nämlich die Zahl der Männer mit ED in Deutschland auf nur 3 Millionen (andere schätzen bis zu 8 Millionen) und geht man von einem Bedarf von 3 Tabletten/Woche aus, so entstehen bei dem jetzigen Pillenpreis von ca. 20 DM jährliche Kosten von über 9 Milliarden DM. Es ist klar, daß sich die Solidargemeinschaft einen solch umfassenden Krankheitsbegriff nicht leisten kann.

Egal, wie man nun den individuellen Nutzen oder auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der „Potenzpille“ beurteilt – mit diesem wirksamen Mittel gegen ED ergibt sich möglicherweise die überraschende Chance, bedrohte Tierarten zu schützen. Der besonders in Asien praktizierte Unsinn, Flossen, Galle, Hörner und Hoden selten gewordener Tiere zur Steigerung der Potenz zu verzehren, könnte vielleicht ein Ende haben. Für Haie, Bären und Nashörner ist Sildenafil sicher eine gute Nachricht.

Fazit: Sildenafil ist ein stark wirksamer Hemmer der cGMP-spezifischen Phosphodiesterase Typ 5, der bei erektiler Dysfunktion organischer und psychogener Ursache wirksam ist. Die Verfügbarkeit dieses Medikaments sollte jedoch nicht dazu führen, daß die Diagnostik der Ursache einer erektilen Dysfunktion vernachlässigt wird. Das volle Spektrum der Nebenwirkungen, speziell bei Langzeitgebrauch, kann noch nicht abgeschätzt werden. Zur Zeit ist das Medikament in Deutschland auf Rezept durch internationale Apotheken zu einem sehr hohen Preis erhältlich (ca. 20 DM/Tablette).