Thalidomid, in den Jahren 1957-1961 in Deutschland als Schlafmittel angewendet und wegen seiner starken Teratogenität viel zu spät vom Markt genommen, erlebt derzeit aufgrund seiner immunmodulatorischen, antiinflammatorischen und antiangiogenen Wirksamkeit eine bemerkenswerte Renaissance. Die Substanz wurde inzwischen von der Food and Drug Administration (FDA) zur Behandlung des Erythema nodosum leprosum zugelassen.
Die kürzlich von der Arbeitsgruppe um B. Barlogie aus den USA mitgeteilten Ergebnisse zur Behandlung des refraktären Plasmozytoms mit Thalidomid sind auf großes Interesse gestoßen (1). Grundlage für den Einsatz von Thalidomid waren Kasuistiken, in denen über eine Wirksamkeit dieser Substanz bei Patienten mit fortgeschrittenem Plasmozytom berichtetet wurde (1), außerdem experimentelle Untersuchungen, in denen eine antiangiogene Wirkung von Thalidomid gefunden wurde (2) und Beobachtungen (3), daß bei Patienten mit aktivem Plasmozytom vermehrt neue Gefäßen im Knochenmark gebildet werden (Neovaskularisation).
In einer Phase-II-Studie wurden deshalb insgesamt 84 Patienten mit vorbehandeltem und progredientem Plasmozytom mit Thalidomid behandelt (1). Als Hinweis auf einen Progreß der Erkrankung wurde ein Anstieg des Paraproteins um 25% oder der Nachweis von mindestens 50% pathologischen Plasmazellen im Knochenmark gewertet. Die meisten dieser Patienten waren zuvor mit einem Zyklus (90%) oder zwei bzw. mehreren Zyklen Hochdosis-Chemotherapie (69%) gefolgt von autologer Stammzell-Transplantation behandelt worden, wobei die mediane Zeit zwischen dem letztem Zyklus dieser intensiven Chemotherapie und dem Beginn der Thalidomid-Gabe 14 Monate betrug. Bei 42% der Patienten waren prognostisch ungünstige zytogenetische Veränderungen nachweisbar. Der primäre Endpunkt der Studie war eine Abnahme des Paraproteins im Serum oder Urin um mindestens 25%. Sekundäre Endpunkte waren u.a. die Zeit bis zum Ansprechen auf Thalidomid bzw. bis zum Progreß der Erkrankung, das ereignisfreie bzw. Gesamtüberleben sowie Veränderungen der Mikrovaskularisation im Knochenmark. Begonnen wurde mit einer täglichen Dosis von 200 mg Thalidomid, die alle 2 Wochen um 200 mg bis zum Erreichen der Zieldosis von 800 mg gesteigert werden sollte. Nur 55 der Patienten erreichten jedoch die Dosis von 800 mg, so daß keine Aussage zur optimalen Dosierung gemacht werden kann. Die mediane Dauer der Behandlung mit Thalidomid berug 80 Tage. Knapp ein Drittel der Patienten (n = 27; 32%) sprach auf Thalidomid an; bei 19 Patienten nahm das Paraproteins um ³ 50% ab und bei 2 Patienten konnte eine komplette Remission erzielt werden. Das mediane Intervall zwischen Beginn der Therapie und Abnahme des Paraproteins um mindestens 25% betrug 29 Tage. Ein niedriger Plasmazell-„Labeling”Index als Hinweis für eine geringe DNA-Replikationrate in den Tumorzellen korrelierte mit dem Ansprechen auf Thalidomid. Bei 12 der 27 Patienten kam es während des Beobachtungszeitraums (12-16 Monate) zu einem erneuten Progreß des Plasmozytoms. Eine genaue Auswertung des Therapieansprechens bezüglich Abnahme der Knochenschmerzen bzw. Rückbildung lytischer Knochenläsionen wurde nicht vorgenommen. Es fand sich auch keine eindeutige Korrelation zwischen Ansprechen auf Thalidomid und Abnahme der Mikrovaskularisation im Knochenmark. Fast alle Patienten, die Thalidomid in der Dosierung von 400 mg/d oder in höherer Dosierung einnahmen, berichteten über Nebenwirkungen, wie Verstopfung, Schwäche oder Müdigkeit und Somnolenz (meistens WHO-Grad 1 oder 2). Hämatologische Nebenwirkungen (Leuko-, Thrombozytopenie) waren selten. Insgesamt 9 Patienten brachen die Behandlung mit Thalidomid wegen Unverträglichkeit ab.
Die in dieser Phase-II-Studie beobachtete Wirksamkeit von Thalidomid bei Patienten mit intensiv vorbehandeltem Plasmozytom ist bemerkenswert; es bleiben jedoch zahlreiche Fragen unbeantwortet, auf die z.T. in einem begleitenden Editorial eingegangen wird (4). Eine Überlegenheit von Thalidomid gegenüber der Standardtherapie mit Alkylanzien und/oder Glukokortikoiden kann aus den Ergebnissen dieser Studie nicht abgeleitet werden. Überraschenderweise befanden sich 40% der Patienten in dieser Studie zu Beginn der Thalidomid-Gabe nicht im Stadium III nach Salmon und Durie, sondern wurden vermutlich nur aufgrund eines Anstieg des Paraproteins behandelt. Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit von Thalidomid sind nicht möglich, da die mittlere Beobachtungszeit der überlebenden Patienten nur 13 Monate betrug. Auch der antitumoröse Wirkungsmechanismus von Thalidomid bleibt unklar. Diskutiert werden u.a. eine Hemmung der Angiogenese, eine direkte Beeinflussung des Wachstums von Plasmozytom- und/oder Knochenmarkstromazellen sowie eine verstärkte Sekretion von Zytokinen durch T-Lymphozyten, die das Wachstum und Überleben von Plasmazellen regulieren (1,4).
Fazit: Thalidomid führt bei etwa einem Drittel der Patientem mit intensiv vorbehandeltem Plasmozytom zu einer deutlichen Abnahme des Paraproteins. Die antitumoröse Wirksamkeit und die geringe hämatologische Toxizität von Thalidomid rechtfertigen den Einsatz dieser Substanz in kontrollierten klinischen Studien bei Patienten mit neu diagnostiziertem Plasmozytom, z.B. als Monotherapie im Vergleich zur Standardtherapie mit Melphalan plus Prednison oder in Kombination mit Chemotherapie.
Literatur
1. Singhal, S., et al.: N. Engl. J. Med. 1999, 341, 1565.
2. D Amato, R.J., et al.: Proc. Natl. Acad. Sci. USA 1994, 91, 4082.
3. Vacca, A., et al.: Blood 1999, 93, 3064.
4. Raje, N., und Anderson, K.: N. Engl. J. Med. 1999, 341, 1606.