Dres. H.K. aus Kiel und U.S.-G. aus Berlin schreiben: >> In der Novemberausgabe 2000 des ARZNEIMITTELBRIEFS (1) wird über eine randomisierte Studie von O. Langer et al. (2) berichtet, die Wirksamkeit und Sicherheit von Glibenclamid im Vergleich zu Humaninsulin bei über 400 Frauen im Alter von 18 bis 44 Jahren untersucht. Die Autoren dieser Studie folgern aus ihren Daten, daß Glibenclamid eine wirksame und sichere Alternative zum Insulin zur Behandlung des Gestationsdiabetes ist, da keine signifikanten Unterschiede im „Fetal outcome“ zu verzeichnen waren. Wir halten die gezogenen Schlußfolgerungen mit der Implikation einer Anwendung von Glibenclamid bei Schwangeren mit Gestationsdiabetes außerhalb kontrollierter klinischer Studien aus foldenden Gründen für verfrüht:
1. Die Autoren geben nicht an, ob Glibenclamid rechtzeitig präpartal abgesetzt wurde, um eine peripartale Hypoglykämieneigung der Mutter zu vermeiden.
2. Tierexperimentelle in-vivo-Befunde (3) belegen eindeutig, daß Glibenclamid in erheblichem Ausmaß die Plazenta-Schranke überwinden kann und somit zum jetzigen Zeitpunkt auch beim Menschen ein iatrogener fetaler Hyperinsulinismus nicht auszuschließen ist.
3. Es kann nicht nachvollzogen werden, warum die Schwangeren mit einem Nüchtern-Plasma-Blutzucker von 95-139 mg/dl nicht in einen dritten „Diät-Arm“ randomisiert wurden, zumal Kalorien- und Kohlenhydratrestriktion und intensive Blutzucker-Selbstkontrolle per se eine effektive Therapieform darstellen.
4. Die empfohlene Tageshöchstdosis für Glibenclamid in Deutschland beträgt für Typ-2-Diabetiker 10,5 mg. Es fehlt eine Erklärung, warum in der Studie Schwangere mit bis zu 20 mg Glibenclamid/d behandelt wurden.
5. Völlig an der klinischen Praxis vorbei wurden die Schwangeren mit erhöhtem Nüchtern-Blutzucker mit dreimal täglicher „Standard-Dosis“ kurzwirksamen Insulins zu den Hauptmahlzeiten behandelt. Hierfür fehlt eine pathophysiologische Begründung.
6. Da erst Schwangere nach der 11. Schwangerschaftswoche mit Glibenclamid behandelt wurden, konnten keine Erkenntnisse zur Frage der Teratogenität von Glibenclamid gewonnen werden.
7. An der Studie muß kritisiert werden, warum nicht länger als eine Woche mit streng überwachter Diät gewartet wurde, bevor man sich zu einer medikamentösen Therapie entschied.
8. Bei 4% der mit Glibenclamid behandelten Schwangeren war wegen unzureichender Einstellung des Blutzuckers doch eine Umstellung auf Insulin erforderlich.
Wir meinen, daß in dieser Studie Glibenclamid bei stark selektionierten Schwangeren im Vergleich zu einer einzigen Insulinstrategie geprüft wurde. Es müssen daher an größeren Patientinnenzahlen noch die Fragen der Teratogenität von Glibenclamid, das Risiko protrahierter Hypoglykämien der Mutter sowie das Risiko eines fetalen Hyperinsulinismus mit der Gefahr einer iatrogenen Fetopathia diabetica und neonatalen Hypoglykämien geklärt werden. Diese Auffassung entspricht u.a. auch den Empfehlungen der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft (4), in denen weitere Studien zur Beurteilung der Sicherheit von Glibenclamid bei Gestationsdiabetes gefordert werden. Schließlich weisen wir darauf hin, daß Schwangerschaft und Stillzeit nach wie vor in Deutschland (ebenso wie in den USA) eine Kontraindikation für die Therapie mit Glibenclamid und anderen Sulfonylharnstoff-Präparaten bei Gestationsdiabetes und auch Typ-2-Diabetes mellitus darstellen. Außerhalb kontrollierter Studien muß also davon abgeraten werden, die Therapie mit Glibenclamid bei Schwangeren mit Gestationsdiabetes „einzuüben“. <<
Literatur
1. X2001, 11, 15.
2. Langer, O., et al.: N. EngI. J. Med. 2000, 343, 1134.
3. Sivan, E., et al.: Diabetologia 1995, 38, 753.
4. American Diabetes Association: Gestational Diabetes mellitus. Diabetes Care 2001, 24 Suppl. 1, S77.
Antwort: >> Wir haben die hier besprochene Studie ebenfalls mit Zurückhaltung kommentiert. Die Kollegen/innen aus Kiel und Berlin erläutern das Problem der Therapie des leichten Gestationsdiabetes mit viel Sachverstand. Ihre Ausführungen sind zu begrüßen. <<