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Chronische Otitis media bei Kleinkindern – wann und wie operativ sanieren?

Die Otitis media ist einer der häufigsten Gründe für einen Arztbesuch im Kindesalter. Chronifiziert die Otitis media, dann folgt in aller Regel ein seromuköser Mittelohrerguß (sog. ”Glue ear”), der eine Schallleitungs-Schwerhörigkeit bedingen kann. Nach Versagen konservativer Maßnahmen (abschwellende Nasentropfen und Antibiotika) ist eine Parazentese des Trommelfells mit Insertion eines Paukenröhrchens, gegebenfalls in Kombination mit einer Adenotomie, die Therapie der Wahl. Da sich gerade Kleinkinder sprachlich und psychosozial rasant entwickeln und eine Schwerhörigkeit dies beeinträchtigen kann, wurde bisher eine frühzeitige Operation angestrebt, z.B. wenn der Mittelohrerguß länger als drei Monate persistierte.

Im N. Engl. J. Med. wurde eine Studie vorgestellt, die prospektiv und randomisiert untersucht, ob und wie sich ein früher bzw. verzögerter Operationszeitpunkt beim chronischen Mittelohrerguß auf die sprachliche, kognitive und psychosoziale Entwicklung bei Kleinkindern auswirkt (1). Zu diesem Zweck wurden in Pittsburgh (USA) und Umgebung 6350 gesunde Neugeborene in die Studie eingeschlossen und monatlich bis zum Ende des dritten Lebensjahrs otoskopisch und mittels Tympanometrie untersucht. Bei Auftreten einer akuten Otitis media oder eines Serotympanons wurde routinemäßig antibiotisch behandelt. Alle Kinder, bei denen ein Mittelohrerguß auftrat, wurden vierwöchentlich audiometrisch evaluiert. Eine leichte bis mittelgradige Schwerhörigkeit hatten 50% der Kinder mit einseitigem und 75% der Kinder mit beidseitigem Erguß. 429 Kinder, bei denen der Erguß unilateral > 135 Tage lang oder bilateral > 90 Tage lang persistierte, wurden randomisiert. Das mittlere Lebensalter lag bei 15 Monaten. Beide Gruppen unterschieden sich nicht hinsichtlich ihrer sozialen oder klinischen Ausgangswerte. Eine Parazentese mit Einlage eines Paukenröhrchens wurde bei den 216 Kindern der Gruppe 1 zum frühstmöglichen Zeitpunkt angestrebt. In der Gruppe 2 verhielt man sich dagegen abwartend; bei beidseitigen Ergüssen wurde nach 6 Monaten und bei einseitiger Effusion nach 9 Monaten eine operative Versorgung der 213 Kinder geplant. Ein hoher Prozentsatz der Kinder konnte bis zum Ende des dritten Lebensjahrs nachbeobachtet und psychologisch getestet werden (Gruppe 1: 95%, Gruppe 2: 92%). In Gruppe 1 verzögerte sich die Insertion des Paukenröhrchens bei 37 Kindern um mehr als 60 Tage wegen Schwierigkeiten mit dem OP-Einverständnis oder weil sich der Erguß zunächst signifikant besserte und zu einem späteren Zeitpunkt wieder auftrat. 37 Kinder (18%) erhielten keine Paukendrainage. In der Gruppe 2 wurden 9 Kinder vorzeitig auf Wunsch der Eltern oder aufgrund einer akuten Otitis operiert. Bei 130 Kindern (66%) konnte im Verlauf auf eine operative Versorgung verzichtet werden. Obwohl in der Gruppe 2 Mittelohrergüsse länger und häufiger nachweisbar waren, ließen sich keine signifikanten Unterschiede in der sprachlichen, kognitiven oder psychosozialen Entwicklung am Ende des dritten Lebensjahres zwischen den beiden Behandlungsgruppen nachweisen. Die Autoren weisen abschließend darauf hin, daß die Studienergebnisse nur für sonst gesunde Kleinkinder mit einer leichten bis mittelgradigen Schwerhörigkeit durch einen Erguß der oben angegeben Zeitdauer gelten.

In der selben Ausgabe des N. Engl. J. Med. erschien eine Studie, die sich mit der Frage beschäftigt, ob die routinemäßige Erweiterung der Parazentese und Paukendrainage durch eine adjuvante Adenotomie (= AT) und Tonsillektomie (= TE) Vorteile im Hinblick auf die Rezidivhäufigkeit von Mittelohrentzündungen bringt (2). Es wurden dafür retrospektiv die Daten von allen 37316 Kindern ausgewertet, die in den Jahren 1995-1997 in Ontario (Kanada) erstmalig mit einer Paukendrainage operativ versorgt worden waren. Es wurden zwei Datenpools gebildet; einerseits die Kinder, die nur eine Paukendrainage erhielten (n = 26714) und andererseits diejenigen, die sich adjuvant einer AT (11%) und zusätzlich einer TE (16%) unterzogen hatten (zusammen n = 10602). Die Ausgangswerte beider Gruppen waren uneinheitlich; so differierten Geschlecht, Dauer des Krankenhausaufenthalts und Erfahrung des Operationsteams signifikant. Außerdem waren die Kinder der ersten Gruppe im Mittel jünger. Über die Häufigkeit und Ausprägung von nasopharyngealen Raumforderungen in den Gruppen lagen keine Angaben vor; somit sind die Ergebnisse nur eingeschränkt aussagefähig. Die aufgetretenen Komplikation wurden nicht genauer spezifiziert und lagen in der Gruppe mit alleiniger Insertion der Paukenröhrchen bei 0,2%, mit adjuvanter AT erhöhte sich die Komplikationsrate auf 0,5%, und bei zusätzlicher TE erreichte sie 2,6%. Bei 5277 Kindern (14%) erfolgte die Reinsertion eines Paukenröhrchens im Verlauf der nächsten zwei Jahre; 5811 Patienten (16%) wurden im gleichen Zeitraum wieder wegen einer Otitis aufgenommen. Wurde initial zusätzlich zur Paukendrainage eine AT durchgeführt, so sank das Relative Risiko (RR) für eine Reinsertion wie für eine Wiederaufnahme auf 0,5 (signifikant). Eine anfänglich maximale, operative Therapie durch eine adjuvante AT plus TE führte zu einer Verminderung des RR auf 0,4. Als Erklärung für die verminderte Rezidivrate liegt die Verbesserung der nasopharyngealen Verhältnisse zwar auf der Hand. Ursächlich für eine geringere Einweisungsrate könnte aber auch die Tatsache sein, daß die weiterbehandelnden Ärzte diejenigen Kinder, die bereits eine AT und TE hatten, bei Otitisrezidiven nicht erneut für eine mögliche operative Sanierung eingewiesen haben.

Fazit: Kleinkinder mit chronischem Mittelohrerguß und leichter bis mittlelschwerer Schwerhörigkeit profitieren nicht von einer schnellen operativen Versorgung im Hinblick auf mögliche sprachliche oder psychosoziale Entwicklungsstörungen. Durch abwartendes Verhalten kann auf viele Operationen verzichtet werden. Adjuvante Adenotomien und Tonsillektomien sind mit einer höheren Komplikationsrate behaftet, können aber die Zahl von Rezidiven vermindern. In praxi sollte aber eine Erweiterung der chirurgischen Sanierung, wie bisher üblich, vom Alter des Patienten und von den Verhältnissen im nasopharyngealen Raum abhängig gemacht werden.

Literatur

  1. Paradise, J.L., et al.: N. Engl. J. Med. 2001, 344, 1179.
  2. Coyte, P.C., et al.: N. Engl. J. Med. 2001, 344, 1188.