Artikel herunterladen

Selektive ”Darmsterilisation” bei Intensiv-Patienten doch günstig?

Die selektive Dekontaminierung des Intestinaltraks (SDD) ist eine 1984 in die Intensivmedizin eingeführte Methode mit dem Ziel, nosokomialen Infektionen, die erheblich zu Morbidität und Letalität beitragen, vorzubeugen. Es wird angenommen, daß den meisten dieser Infektionen eine Kolonisierung pathogener Keime im oropharyngealen Bereich und im Darmtrakt vorausgeht. Das Ziel ist, eine Kolonisierung solcher Keime zu vermeiden oder zu reduzieren, ohne die normale Darmflora wesentlich zu beeinträchtigen. In bisher publizierten kontrollierten Studien zeigte sich teilweise ein positiver Trend der SDD; es gab aber auch ungünstige Resultate hinsichtlich der Zielkriterien Pneumonie, Sepsis, multiples Organversagen und Tod (1, 2). Zudem wurde wegen zu geringer Patientenzahl und damit zu geringer statistischer ”Power” oft eine sichere Aussage verfehlt.

E. de Jonge et al. aus Amsterdam und Utrecht veröffentlichten kürzlich eine umfangreiche randomisierte offene Studie, in der SDD mit der Standard-Therapie verglichen wurde (3). Die Intensivstation (ICU) der Universitätsklinik Amsterdam verfügt über zwei benachbarte Behandlungseinheiten, in denen das gleiche Spektrum von Patienten mit internistischen und chirurgischen Patienten versorgt wird. Von September 1999 bis Dezember 2001 wurden die in die Studie eingeschlossenen Patienten randomisiert der einen oder der anderen Einheit zugeteilt. Bei den Patienten mußte der zu erwartende Aufenthalt auf der ICU 72 Stunden und die zu erwartende Zeit der mechanischen Beatmung 48 Stunden überschreiten. In einer Einheit wurde die SDD angewandt, in der anderen nicht. Diese Strategie wurde gewählt, um eine gegenseitige Kontamination beider Patientengruppen zu vermeiden. Den SDD-Patienten wurde viermal am Tag 0,5 g einer Paste in die Mundhöhle appliziert, die 2% Polymyxin E, 2% Tobramycin und 2% Amphotericin B enthielt. Sie erhielten außerdem 100 mg/d Polymyxin E, 80 mg/d Tobramycin und 500 mg/d Amphotericin B per Magensonde. Bei tracheotomierten Patienten wurde außerdem die oben erwähnte Paste auf die Haut in der Umgebung des Stomas aufgetragen. Patienten mit blind endenden Darmschlingen (z.B. nach Kolostomie) wurden zwei- bis viermal täglich mit Suppositorien behandelt, die die o.g. Antibiotika enthielten. Während der ersten 4 Tage erhielten alle Patienten zusätzlich viermal täglich je 1 g Cefotaxim (Claforan u.a.) i.v. Die Patienten-Charakteristika (APACHE-Score, Geschlechtsverteilung, Alter, internistische Erkrankungen, elektive chirurgische Eingriffe, Notfall-Chirurgie) war auf beiden Stationen fast gleich.

Ergebnisse: Die ICU-Letalität betrug bei den 466 SDD-Patienten 14,8%, bei den anderen 468 Patienten 22,9% (p = 0,002). Die Krankenhaus-Letalität insgesamt betrug 24,2% versus 31,2% (p = 0,02). In den Jahren vor Beginn der Studie war die Letalität in den beiden Behandlungseinheiten fast identisch gewesen. Während der ICU-Zeit war die Inzidenz einer Kolonisation mit gramnegativen Keimen, die resistent gegen Ceftazidim, Ciprofloxacin, Imipenem, Polymyxin E oder Tobramycin waren, in der SDD-Gruppe 16% versus 26% in der Kontroll-Gruppe. Kolonisation mit Vancomycin-resistenten Enterokokken wurde in beiden Gruppen gleich selten (1%) und mit Methicillin-resistentem Staphylococcus aureus in keinem Fall gefunden. Unter Einschluß aller für die SDD benötigten Antibiotika waren die Kosten für Antibiotika insgesamt in der SDD-Einheit ca. 11% geringer als in der Kontroll-Einheit, was auf seltenere Indikationen zur therapeutischen Anwendung von Antibiotika in der SDD-Einheit zurückzuführen ist.

Die Autoren schließen aus den Ergebnissen, daß in einer Umgebung mit geringer Prävalenz von Vancomycin-resistenten Enterokokken und Methicillin-resistentem Staphylococcus aureus die SDD eine wirksame Methode zur Reduzierung der ICU- und Krankenhaus-Letalität ist. Auch wurde die Kolonisierung der Patienten mit Antibiotika-resistenten gramnegativen Keimen reduziert.

Fazit: Diese große Studie ergab Vorteile der selektiven Darmdekontamination bei Intensivpatienten im Hinblick auf das Überleben auf der Intensivstation und im Krankenhaus sowie im Hinblick auf die Antibiotikakosten. Jedoch sind die Ergebnisse solcher Studien – auch wenn die Patientenzahl für statistische Aussagen groß genug ist – wegen der fehlenden Verblindung immer mit Unsicherheiten behaftet. Ferner ist auch nicht bekannt, wie sich die Resistenzlage nosokomialer Keime langfristig entwickeln wird, wenn die selektive Darmdekontamination in allen Intensivstationen generell angewandt würde. Solange dies nicht geklärt ist, raten wir von dieser Therapie ab.

Literatur

  1. Lingnau, W., et al.: J. Trauma 1997, 42, 687.
  2. AMB 1998, 32, 22a.
  3. de Jonge, E., et al.: Lancet 2003, 362, 1011.