Zusammenfassung: Die künstliche enterale Ernährung ist eine fast physiologische Form der Nahrungszufuhr. Sie kann angewendet werden, wenn eine normale orale Ernährung nicht möglich ist. Über die Indikation gibt es eine Auseinandersetzung zwischen dem gemeinsamen Bundesausschuss Ärzte-Krankenkassen (GBA) und dem Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS). Verordnungsfähig ist zurzeit die künstliche enterale Ernährung nur in Situationen, die in einer am 1. Oktober 2005 in Kraft getretenen ministeriellen Richtlinie beschrieben werden. Darauf gehen wir ein. Die Nebenwirkungen einer über Sonden zugeführten Nahrung sind gering. Die künstliche enterale Ernährung kann über Jahre erfolgen. Die ethischen Probleme einer Ernährungstherapie bei schwerstkranken Patienten werden kurz angesprochen. Für einen tieferen Einblick in die Ernährungsmedizin werden im Literaturverzeichnis Hinweise gegeben.
Einleitung: Ernährung dient der Aufrechterhaltung physiologischer Funktionen und Leistungen des menschlichen Organismus und muss aus diesem Grund alle notwendigen Nährstoffe in ausreichendem Maße enthalten. Zu diesem Bedarf gibt es Referenzwerte, die in der Regel für gesunde Personen erstellt wurden. Der tägliche Bedarf wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie Alter, Geschlecht, Aktivitäten, Klima, Krankheiten und Ernährungszustand. Für kranke Menschen sind spezielle ernährungsmedizinische Maßnahmen notwendig. Die Ernährung ist dem durch Krankheiten veränderten Bedarf anzupassen.
Ist ein Mensch nicht mehr in der Lage ausreichend zu essen und zu trinken, so können diese Defizite ausgeglichen werden durch enterale und/oder parenterale Nahrungszufuhr. Enterale und parenterale Nahrungszufuhr sind in vielen Situationen sich ergänzende Maßnahmen, die deshalb bei der Entscheidung für eine Ernährungsstrategie immer zusammen bedacht werden sollten.
Wenn möglich, ist die enterale Nahrungszufuhr vorzuziehen, da damit nicht nur der physiologische Weg eingehalten wird, sondern auch die normalen Funktionen des Organismus am besten aufrechterhalten werden können. Lebensbedrohliche Infektionen werden ebenfalls verringert. Dabei sollte grundsätzlich einer Normalkost der Vorzug vor Trinknahrungen beziehungsweise der künstlichen enteralen Ernährung über Sonden gegeben werden.
Indikation: Ist eine normale und ausreichende Nahrungszufuhr nicht mehr möglich, muss eine künstliche Ernährung erwogen werden, um die Folgen einer Fehl- oder Mangelernährung zu verhindern. Dabei hat sich in der Praxis – trotz einiger Nachteile – der Body-Mass-Index (BMI) als Orientierungshilfe bewährt.
Ist die Mangelernährung dadurch entstanden, dass nicht mehr ausreichend Normalkost gegessen werden kann, so kann versucht werden, durch adaptierte Trinklösungen eine ausreichende Supplementierung zu erreichen. Dies bedeutet keinen wesentlichen Eingriff in den täglichen Ablauf, bedarf aber einer intensiveren pflegerischen Zuwendung. Sie kommt aber aus organisatorischen Mängeln (unzureichende Finanzierung, Personalmangel bei Pflegediensten etc.) häufig zu kurz. Hiervon sind überwiegend ältere Menschen betroffen, die oft an Appetitlosigkeit, Schluckstörungen, Depression, Demenz, sozialer Isolation und auch gastroenterologischen Erkrankungen leiden.
Um die Indikationen zur enteralen Ernährung geht es auch im Streit zwischen BMGS und GBA. Das BMGS hat entschieden, dass „enterale Ernährung bei fehlender oder eingeschränkter Fähigkeit zur ausreichenden normalen Ernährung verordnungsfähig” ist und „enterale Ernährung und sonstige Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährung schließen einander nicht aus, sondern sind erforderlichenfalls miteinander zu kombinieren”. Die entsprechende Richtlinie ist am 1.10. 2005 in Kraft getreten. Der GBA sieht dadurch Tür und Tor geöffnet für Missbrauch der enteralen Ernährung zu Lasten der Krankenkassen bei Patienten, bei denen es vielleicht pflegerische aber keine medizinische Indikation gibt und will die Entscheidung des BMGS vor Gericht anfechten.
Ist eine künstliche Ernährung über ein Sondensystem notwendig, unabhängig davon, ob diese enteral oder parenteral erfolgen soll, so ist bei der Vorbereitung zur Anlage des Systems sowie bei der weiteren Betreuung ein Standardverfahren einzuhalten, um entsprechende grundlegende Qualitätskriterien einzuhalten.
Dazu gehören in
Phase 1: Indikationsstellung und Einwilligung,
Phase 2: Wahl des Infusionswegs, Zusammenstellung der Nährlösungen, Zufuhrtechnik,
Phase 3: Klärung der Kostenübernahme, Versorgungskonzept bzw. Wahl des Dienstleistungsunternehmens, Schulung und Information der Beteiligten,
Phase 4: Therapieüberwachung und Adaptation, Therapiebeendigung.
Es muss ausführlich mit der entsprechenden Person das Für und Wider einer solchen künstlichen Ernährung besprochen und die Einwilligung eingeholt werden. Eine künstliche Ernährung von Patienten gegen ihren erklärten Willen ist natürlich ausgeschlossen. Häufig stehen Personen in weit fortgeschrittenen Stadien der Demenz oder von Tumorerkrankungen unter Betreuung, so dass der Betreuer den Maßnahmen zustimmen muss. Gehen die Meinungen darüber auseinander, was die bestmögliche Hilfe für den Patienten ist, muss die Entscheidung des Familiengerichts gesucht werden.
Im Rahmen der enteralen Ernährung spielt heute der Begriff der bakteriellen Translokation eine besondere Rolle. Man weiß, dass es bei Schwerkranken innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen zu einer relevanten Beeinträchtigung der Darmfunktion kommen kann. Dabei können Bakterien und Toxine die Darmwand passieren und in die Pfortader sowie in die mesenterialen Lymphknoten gelangen. Viele Faktoren, wie Interleukine, Tumor-Nekrose-Faktor alpha und Prostaglandine, spielen dabei eine Rolle. Durch diese Translokation kann sich das so genannte Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS) entwickeln.
Die bakterielle Translokation wird begünstigt durch intestinale Hypoperfusion nach Traumen oder anderweitigen Eingriffen am Gastrointestinaltrakt sowie auch durch Zellschäden im Rahmen der Reperfusion. Auch Mangelernährung bei allgemeiner Schwäche eines Patienten begünstigt den Übertritt von Bakterien. Sichere Beweise für die klinische Relevanz einer solchen intestinalen Schrankenstörung gibt es bisher nicht. Studien haben aber gezeigt, dass die enterale Ernährung mit einer Verminderung der Infektionen bei diesen Patienten korreliert.
Aus diesem Grund wird heute empfohlen, bereits innerhalb weniger Stunden oder Tage nach großen Operationen oder Traumata, aber auch nach ausgedehnten gastrointestinalen Erkrankungen, wie z.B. schwerer nekrotisierender Pankreatitis, unter Berücksichtigung von Kontraindikationen mit einer enteralen Ernährung zu beginnen. Hierzu sollte eine Ernährungssonde in der Regel endoskopisch bis weit in das Jejunum, nach Möglichkeit hinter das Treitzsche Band, gelegt werden. Je nach Zustand des Patienten kann parallel auch eine parenterale Ernährung erfolgen.
Sondenlage: Ist eine orale Nahrungszufuhr, auch in Form von Trinklösungen, nicht mehr möglich, so sind je nach Indikation für eine enterale Ernährung verschiedene Zugangswege möglich. Handelt es sich um eine kurzfristige, nur einen bestimmten Zustand überbrückende Maßnahme, so können transnasale Ernährungssonden verwendet werden. Besteht bei dem Patienten eine normale Magenfunktion, ohne dass Reflux oder Aspiration befürchtet werden müssen, so können Magensonden gelegt werden. Bei gastraler Sondenlage sollte die Nährlösung als Bolus gegeben werden, um Atonie zu vermeiden. Bei duodenaler oder jejunaler Sondenlage ist kontinuierliche Applikation zu empfehlen. Besteht die Gefahr einer Aspiration, so ist die Ernährungssonde endoskopisch bis in das Jejunum vorzuschieben.
Ist eine enterale Ernährung über einen längeren Zeitraum (länger als 4-6 Wochen) notwendig, so ist die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) einzuplanen. Auch hier gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Bei normaler Magenperistaltik und fehlender Aspirationsgefahr kann die Sondennahrung direkt in den Magen zugeführt werden. Bei Patienten, die länger liegen bzw. bei denen gastroösophagealer Reflux und Aspiration zu befürchten sind, sollte über die PEG die Ernährungssonde endoskopisch bis in das Jejunum platziert werden.
Nährlösungen: Bei künstlicher enteraler Ernährung sollte man nur in Ausnahmefällen auf selbst hergestellte Diäten zurückgreifen, denn sie verklumpen leicht und sind hygienisch oft nicht einwandfrei.
Nährstoff-definierte Diäten: Hierbei unterscheidet man Standarddiäten und modifizierte Nährstoff-definierte Diäten. Standarddiäten können gegeben werden bei ungestörter Stoffwechsellage. Sie sollten in der Regel enthalten: Protein 15-20%, Fett 25-30% und Kohlenhydrate 50-60%. Diese Diäten sind am preisgünstigsten und können ballaststoffarm bei normaler Verdauungs- und Resorptionsleistung gegeben werden. Für Langzeiternährung empfehlen sich ballaststoffhaltige Nahrungen, wobei hier zwischen unlöslichen und löslichen Ballaststoffen unterschieden werden muss. Die löslichen Ballaststoffe werden im Dickdarm verdaut und können somit Einfluss auf die Kolonschleimhaut nehmen.
Modifizierte Nährstoff-definierte Diäten sind geeignet für Patienten mit Einschränkungen der Resorption. Hier geht es insbesondere darum, ob die Standarddiäten mittelkettige Triglyzeride als Fettkomponente enthalten bzw. laktosefrei sind.
Chemisch definierte Diäten: Diese niedermolekularen Diäten können bei Störungen der Verdauung und der Resorption eingesetzt werden. Sie sind ballaststofffrei, arm an Fetten und enthalten Proteinhydrolysate. Vorteil dieser Diäten ist die nahezu vollständige Resorption im oberen Gastrointestinaltrakt. Hauptproblem dieser Diäten ist bei oraler Zufuhr der unangenehme Geschmack. Bei jejunaler Ernährung spielt dies keine Rolle.
Das BMGS regelt auch die Verordnungsfähigkeit der verschiedenen Produkte. Die Regelung bei der Produktspezifikation ist klar, knapp und nach unserer Meinung wenig kontrovers mit einem hohen Grad wissenschaftlicher Evidenz. Wir teilen sie daher unseren Lesern im Wortlaut mit, zumal sie am 1.10.2005 verbindlich in Kraft getreten ist:
„Standardprodukte im Sinne der Richtlinie sind Elementardiäten und Sondennahrungen, die bei der überwiegenden Zahl der Indikationen für enterale Ernährung einsetzbar sind. Spezialprodukte im Sinne der Richtlinie sind Elementardiäten und Sondennahrungen, die krankheitsadaptiert für bestimmte Indikationen ausgewiesen sind. Bei gegebener Indikation erfolgt die Versorgung mit Elementardiäten und Sondennahrung in Form von norm- oder hochkalorigen Standardprodukten, hierzu zählen auch gegebenenfalls
· Produkte mit Anpassung für Niereninsuffiziente, altersadaptierte Produkte für Säuglinge und Kleinkinder,
· Elementardiäten (so genannte Trinknahrung) mit hochhydrolysierten Eiweißen oder Aminosäuremischungen für Säuglinge und Kleinkinder mit Kuhmilcheiweißallergie oder Patientinnen und Patienten mit multiplen Nahrungsmittelallergien,
· niedermolekulare oder speziell mit mittelkettigen Triglyzeriden (MCT-Fette) angereicherte Produkte, bei Patientinnen und Patienten mit dokumentierten Fettverwertungsstörungen oder Malassimilationssyndromen (z.B. Kurzdarmsyndrom, AIDS-assoziierter Diarrhö, Mukoviszidose),
· defektspezifische Aminosäuremischungen für Patientinnen und Patienten mit Phenylketonurie oder weiteren angeborenen Enzymdefekten, die mit speziellen Aminosäuremischungen behandelt werden,
· spezielle Produkte für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit seltenen angeborenen Defekten im Kohlehydrat- oder Fettstoffwechsel sowie für weitere diätpflichtige Erkrankungen und
· ketogene Diäten für Patientinnen und Patienten mit Epilepsien, wenn trotz optimierter antikonvulsiver Therapie eine ausreichende Anfallskontrolle nicht gelingt.
Die Verordnung von krankheitsadaptierten Spezialprodukten ist ausgeschlossen, soweit es sich um Produkte handelt, die speziell für die Indikationen
· chronische Herz-, Kreislauf-, oder Ateminsuffizienz,
· Dekubitusprophylaxe oder Behandlung,
· Diabetes mellitus,
· Geriatrie,
· Stützung des Immunsystems,
· Tumorpatienten
angeboten werden.
Folgende Produkte sind aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht verordnungsfähig:
· Elementardiäten und Sondennahrungen, die über die gesetzlichen Anforderungen hinaus mit Mineralstoffen, Spurenelementen oder Vitaminen angereichert sind,
· hypokalorische Lösungen (Energiedichte unter 1,0 kcal/ml),
· sonstige Hydrolysatnahrungen und Semielementarnahrungen.
Folgende Produkte sind nicht verordnungsfähig, soweit damit Mehrkosten verbunden sind:
· Produkte, die speziell mit Ballaststoffen angereichert sind,
· Produkte, die speziell mit mittelkettigen Triglyzeriden angereichert sind; dies gilt nicht, wenn eine dokumentierte Fettverwertungsstörung vorliegt.”
Soweit die zurzeit gültige Richtlinie.
Komplikationen: Obwohl die Ernährung über Sonden heute eine etablierte und sichere Therapie ist, können auch hier Komplikationen auftreten. Dabei unterscheidet man zwischen Komplikationen, die durch die Sondenkost selbst bzw. durch die Sonden bedingt sind.
Zu den durch die Sondenkost bedingten Komplikationen gehören:
· gastrointestinale Beschwerden, wie z.B. Blähungen, abdominelle Schmerzen, Übelkeit, Regurgitation, Aspiration, Erbrechen, Diarrhö,
· metabolische Entgleisungen, wie z.B. Hyperglykämie, Überwässerung, Dehydratation,
· Infektionen, wie z.B. Aspirationspneumonie und Gastroenteritis durch kontaminierte Sondenkost.
Zu den durch PEG-Sonden bedingten Komplikationen gehören:
· Dislokation,
· Obstruktion,
· Infektion durch kontaminierte Sonden,
· Bauchdeckenabszess mit Peritonitis und Diarrhö,
· Einwachsen der inneren Halteplatte,
· intestinale Ischämie.
Häufigste Ursache einer durch Sondenkost bedingten Komplikation ist die Diarrhö. Sie kann entstehen durch:
· Applikation der Ernährung in Form von Boli,
· zu hohes Volumen bei kontinuierlicher Zufuhr,
· zu kurze Adaptationsphase,
· Eigenschaften der Sondenkost, wie zu niedrige Temperatur, zu hohe Osmolalität, Fehlen von Ballaststoffen, hoher Laktose- und Fettgehalt,
· Kontamination von Sondenkost und Zufuhrsystem,
· unerwünschte Arzneimittelwirkungen, z.B. durch Antibiotika in Form gastrointestinaler Infektionen
Bei Diarrhö während der Sondenernährung sollte man Folgendes erwägen:
· Übergang von Bolusgabe zu kontinuierlicher Zufuhr,
· Reduktion der Volumenzufuhr,
· Sondenkost auf Raumtemperatur bringen,
· Sondenkost nach folgenden Kriterien auswählen: niedrige Osmolalität, frei von Laktose, ballaststoffhaltig,
· Wechsel von Nährstoff-definierter Diät auf chemisch definierte Diät,
· Teepause für zwei Tage,
· Anlage von Stuhlkulturen auf pathogene Keime oder Nachweis von Toxinen,
· Überprüfung von Sondenkost und Zufuhrsystem,
· Absetzen einer nicht mehr indizierten Antibiotikatherapie,
· medikamentöse Therapie (z.B. Loperamid).
Weiterführende Literatur
1. Biesalski, H.K., et al.: Ernährungsmedizin. Thieme 1999.
2. Schauder, P., und Ollenschläger, G.: Ernährungsmedizin. Urban und Fischer 2003.
3. Löser, C., und Keymling, M.: Praxis der enteralen Ernährung. Thieme 2001.
4. Lochs, H., et al.: Aktuelle Ernährungsmedizin 2003, Suppl. 1, S1.
5. Heyland, D.K., et al.: J. Parenter. Enteral Nutr. 2003, 27355
6. Scheppach, W., et al.: Aktuelle Ernährungsmedizin 2005, 30, 117.
7. Volkert, D.: Aktuelle Ernährungsmedizin 2005, 30, 142.
8. Roth, E.: Chir. Gastroenterol. 2004, 20, 210.
9. Dtsch. Ärztebl. 2005, 102, B1815.
10. Dtsch. Ärztebl. 2004, 101, B515.
11. Gemeinsamer Bundesausschuss 15.2.2005: www.g-ba.de/cms/upload/pdf/news/2005-02-15_EE_beschluss_wz.pdf
12. Richtlinie des Bundesministeriums: www.bmgs.bund/de/download/richtlinieenteraleernährung.pdf