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Eine zweite Chance für Natalizumab

Im März 2006 wurden im N. Engl. J. M. zwei Studien zur Therapie der Multiplen Sklerose (MS) mit Natalizumab (Tysabri®) publiziert, einmal in Form einer Monotherapie (1), einmal in Kombination mit Interferon beta-1a (2). Beide Studien ergaben einen deutlich besseren Effekt, als die derzeit zugelassenen Standardtherapien, gemessen an Schubrate, Zahl der MRT-Läsionen und der Änderung des Behinderungsgrades über zwei Jahre.

Natalizumab ist ein humanisierter Antikörper gegen das Alpha4-Beta1-Integrin, ein Adhäsionsmolekül, das u.a. auf Lymphozyten exprimiert wird. Der Antikörper hemmt die Infiltration der Lymphozyten in das ZNS.

Nachdem drei Fälle von Progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML; eine opportunistische, nicht behandelbare ZNS-Infektion mit dem JC-Virus) bekannt geworden waren (3), hatte die FDA zunächst jeglichen weiteren Gebrauch von Natalizumab gestoppt. Am 8. März 2006 hat nun das Advisory-Commitee der FDA mit knapper Mehrheit empfohlen, dass Natalizumab, wenn auch mit Auflagen, den MS-Patienten wieder zugänglich gemacht werden kann, zunächst allerdings nur denen, die nach Abschluss der Studien die Substanz weiterhin offen erhalten hatten.

Bisher sind nur drei Fälle von PML bekannt geworden (zwei Patienten in der Kombinationstherapie mit einem Interferon, ein Patient in einer M. Crohn-Studie). Daher ist das Risiko für eine langfristige, möglicherweise über Jahrzehnte dauernde Therapie überhaupt nicht abschätzbar, auch wenn das Risiko auf Grund der bisher exponierten Patienten nur auf ca. 1‰ (CI: 0,2-2,8‰) geschätzt wird (4).

Einer der an PML gestorbenen Patienten hatte bei postmortaler hirnpathologischer Untersuchung gar keine MS, sondern wahrscheinlich eine Migräne mit Aura (3). Wenn eine falsche Behandlungsindikation sogar in wissenschaftlichen Studien gestellt wird, ergibt sich die Frage, wie viele Patienten mit unsicherer Diagnose in Zukunft außerhalb von Studien einer Therapie ausgesetzt werden, deren Risiko zwar nicht genau abschätzbar ist, die aber möglicherweise in Einzelfällen zu einer zumindest zur Zeit nicht behandelbaren tödlichen Erkrankung führen kann.

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (5) empfehlen den Beginn einer immunmodulatorischen Therapie der MS möglichst frühzeitig nach Diagnosestellung der schubförmigen MS, d.h. auch schon nach dem ersten klinisch manifesten Schub bei zusätzlichen kernspintomographischen Nachweisen einer zeitlichen und räumlichen Dissemination der Erkrankung, insbesondere bei aktivem Verlauf (hohe „Herdlast” im MRT).

Hintergrund für diese Empfehlung ist die Tatsache, dass es Studien gibt, die zeigen, dass bei Beginn einer Interferon-Therapie nach dem ersten MS-verdächtigen Ereignis die Zeit bis zum Auftreten weiterer Schübe und auch die Krankheitsprogression nach MRT-Kriterien signifikant verzögert werden können (6, 7). Dies sind Informationen, die von den Herstellerfirmen verständlicherweise sehr betont werden. Dennoch ist zu bedenken, dass nach der einzigen großen, prospektiven, populationsbasierten Kohortenstudie mit 25 Jahren Nachverfolgung über die Hälfte der Patienten auch ohne immunmodulatorische Therapie noch ohne Hilfe gehfähig sind (8). Dies bedeutet, dass es viele Patienten mit einem sehr milden Verlauf gibt, die sicher nicht mit einem potenziell gefährlichen Medikament behandelt werden sollten.

Fazit: Natalizumab sollte – bis auf weiteres – Patienten vorbehalten werden, die trotz Interferon-Therapie klinisch eine rasche Progredienz ihrer Behinderung zeigen. Die Therapie sollte nur in speziell zugelassenen MS-Zentren durchgeführt werden (9, 10).

Literatur

  1. Polman, C.H., et al. (AFFIRM = NAtalizumab safety and eFFIcacy in Relapsing remitting Multiple sclerosis study): N. Engl. J. Med. 2006, 354, 899.
  2. Rudick, R.A., et al. (SENTINEL = Safety and Efficacy of NaTalizumab in combination with INterferon beta-1a in patients with rELapsing remitting multiple sclerosis): N. Engl. J. Med 2006, 354, 911.
  3. Langer-Gould, A., et al.: N. Engl. J. Med 2005, 353, 375; s.a. AMB 2005, 39, 49.
  4. Yousry, T.A., et al.: N. Engl. J. Med. 2006, 354, 924.
  5. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Thieme-Verlag 3. Auflage, 2005
  6. Jacobs, L.D., et al. (CHAMPS = Controlled High-risk subject Avonex Multiple sclerosis Prevention Study): N. Engl. J. Med. 2000, 343, 898.
  7. Comi, G., et al. (ETOMS = Early Treatment Of Multiple Sclerosis): Lancet 2001, 357, 1576; s.a. AMB 2001, 35, 63b.
  8. Runmarker, B., und Andersen, O.: Brain 1993, 116, 117.
  9. Langer-Gould, A., und Steinman, L.: Lancet 2006, 367, 708.
  10. Goodin, D.: Lancet Neurol. 2006, 5, 375.