Artikel herunterladen

Leserbrief: Nochmals: Das Risiko von Aprotinin (Trasylol®) in der Herzchirurgie. Pro und Kontra

Mangano, T.D., et al. (1) haben über ein Register berichtet, in dem – lange nach der Zulassung – Wirkungen und unerwünschte Wirkungen (UAW) von Antifibrinolytika in der praktischen Anwendung erfasst worden sind. Es haben sich neue, wichtige Hinweise auf besondere Risiken von Aprotinin bezüglich der Induktion renaler und kardiovaskulärer Komplikationen ergeben. Wir hatten die Arbeit referiert, weil sie beispielhaft zeigt, welche Bedeutung Register für die Erfassung von UAW haben, die in den Zulassungsstudien nicht erkannt werden können (2). Dazu hat es eine Diskussion unter unseren Beiratsmitgliedern gegeben, an der wir die Leser teilnehmen lassen wollen

Kontra: >> Die Publikation von D.T. Mangano et al. (1) ist bemerkenswert insofern, als man in der Zusammenfassung beeindruckende, vergleichende und beunruhigende Zahlen zum Risiko, u.a. für das Auftreten von Nierenversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall, im Zusammenhang mit der Verwendung von Aprotinin (A) in der Herzchirurgie im Vergleich zu anderen Antifibrinolytika liest. Die Sache scheint klar zu sein. Nach genauem Hinsehen ergeben sich aber ein differenzierteres Bild und offene Fragen.

Die Darstellung zu den dokumentierten Ereignissen ist uneinheitlich und unübersichtlich… Die Benennung einer Risikoerhöhung wie „um 55%“ oder „um 181%“ sollte nicht mehr benutzt werden, weil sie nicht die absolute Risikoerhöhung beschreibt. Das macht zwar mehr her, beschreibt aber nicht die Wirklichkeit, die längst nicht so klar ist, wie glauben gemacht werden soll. Die Mangano-Studie ist offenbar nicht für Ärzte geschrieben, für die diese Daten am wichtigsten sind: praktisch tätige Anästhesisten und Chirurgen.

In der Untersuchung wurde keine Randomisierung hinsichtlich der verschiedenen Behandlungen vorgenommen. Die Ärzte in der Klinik entschieden nach eigener Bewertung oder nach dort etablierter Praxis. Was „No treatment“ heißt, ist nicht beschrieben. Es finden sich keine Hinweise darauf, wie vorgegangen wurde, wenn sich während der Operation der Bedarf für die Gabe eines Antifibrinolytikums ergab.

Es gibt keinerlei Hinweis darauf, ob es Unterschiede in den Zentren gab. Immerhin waren 69 Zentren aus sehr unterschiedlichen Regionen der Welt beteiligt; da könnten jeweils auch andere als medizinische Gründe eine Rolle gespielt haben, nämlich üblicherweise die preisgünstigen oder überhaupt nur verfügbaren Alternativen (Tranexamsäure, Aminocapronsäure) anzuwenden und A durchweg auszuschließen.

Es fallen bei den „Baseline characteristics” bedeutende Unterschiede in den Untersuchungsgruppen auf, was auch die Autoren anmerken. Es ist nicht plausibel, dass Patienten mit zunächst geringerem Eingangsrisiko („Primary surgery”) durch die Behandlung mit A insgesamt ein höheres Risiko für die genannten Ereignisse haben als die Patienten mit höherem Eingangsrisiko („Complex surgery”). Die Effekte des „Propensity adjustment” (entgegen der Erwartung zahlenmäßige Risikoerhöhung!) werden von den Autoren nicht diskutiert.

Der Bericht im AMB geht auf diese Defizite der Publikation bzw. der Studie im sehr renommierten N. Engl. J. Med. nicht ein und zieht – wie die Autoren – weit reichende Schlussfolgerungen. Wenn schon eine Nutzen/Schaden-Bewertung von A vorgenommen wird, so müsste dies in gleicher Weise auch für die Alternativen gemacht werden.

In Kanada wird eine sehr ähnliche, ebenfalls große, prospektive Studie durchgeführt, in der allerdings eine Randomisierung nach Therapie vorgenommen wird. Deren Ergebnisse werden 2007 erwartet. Der Aprotinin-Beitrag im AMB liegt unterhalb der sonstigen Qualität einer kritischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Daten in der Medizin bzw. Pharmakotherapie. <<

Pro: >> Die Präsentation der Studie ist etwas „sensationsgeil” und unübersichtlich. Gleichwohl: eine übertriebene Präsentation ist das eine, der Gehalt der vorgelegten Zahlen das andere. Man kann nicht erwarten, dass alle sicherheitsrelevanten Endpunkte einheitlich betroffen sind, um Sicherheitsbedenken zu äußern. Drei bis fünf Prozent absolutes Exzess-Risiko sind nicht wenig. Bei der Wirksamkeit sind wir häufig mit weniger zufrieden, wenn der Endpunkt wesentlich ist. Insbesondere sind wir doch im Zulassungsverfahren immer beeindruckt, wenn es gelingt, eine Dosis/Wirkungs-Beziehung zu demonstrieren. Das sollte auch bei Dosis/Nebenwirkungs-Beziehungen so sein.

Zentreneffekte werden tatsächlich zu selten in Auswertungen berücksichtigt. Man wäre hier an einer solchen Auswertung interessiert. Allerdings: es kommt kaum je vor, dass durch die Berücksichtigung der Zentren so starke Effekte wie die beschriebenen verschwinden. Natürlich kann auch die statistische Bearbeitung eines Registers (Propensity Score) aus dem Register keine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) machen mit entsprechend harten Daten. Dafür haben die RCT den Nachteil, dass sie häufig die Routinebedingungen nicht gut abbilden und meist für Nebenwirkungen eine zu kleine Fallzahl haben. Es wird interessant sein, die Daten der kanadischen Studie zu sehen, aber ob sie uns Klarheit verschaffen werden, ist offen.

Die Bevorzugung von RCT ist für den Wirksamkeitsnachweis im Zulassungsverfahren optimal. Bei diesem Verfahren ist das Patientenrisiko (Alpha) unter Kontrolle. Das Produzentenrisiko (Beta) kann der Produzent über den Stichprobenumfang beherrschen. Bei dem Nebenwirkungsnachweis ist es jedoch umgekehrt. Hier ist Alpha das Produzentenrisiko. Das Patientenrisiko Beta unterliegt zur Zeit keiner Kontrolle. Wenn man hier auf RCT und strenger Alpha-Kontrolle besteht, so schützt man die Produzenten, vergisst dabei aber die Patienten. Das führt dazu, dass Warnungen oft zu spät kommen.

Daher muss – wie hier vorbildlich vom AMB – frühzeitig über Bedenken informiert werden. Natürlich kann es sein, dass sich der Verdacht durch neue Studien entkräften lässt. Auf Basis der aktuellen Daten scheint hingegen ein Warnhinweis angebracht. Die aktuelle Leserbriefdiskussion im N. Engl. J. Med. (3) zeigt auch klar, dass die Sache mindestens debattierenswert ist und dass das Journal nicht ungewöhnlich leichtfertig handelte, als es die Arbeit von Mangano zur Veröffentlichung annahm. Wenn wir nicht immer zu spät kommen wollen (vgl. Vioxx® und Lipobay®), dann müssen wir dringend unsere Bereitschaft erhöhen, Sicherheitsbedenken auch auf unsicherem statistischem Boden nach bestem Wissen und Gewissen zu diskutieren. <<

Literatur

  1. Mangano, D.T., et al.: N. Engl. J. Med. 2006, 354, 353.
  2. AMB 2006, 40, 20.
  3. Correspondence: N. Engl. J. Med. 2006, 354, 1950.