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Wie Impfstoffe durch Verantwortungslosigkeit, wissenschaftliches Fehlverhalten und gezielte Desinformation in Misskredit gebracht wurden

Einleitung: Lymerix®, der Impfstoff gegen Borreliose, war nur 38 Monate auf dem Markt, bevor er von SmithKlineBeecham (heute: GlaxoSmithKline) aus Sorge vor ausufernden Schadensersatzklagen US-amerikanischer Anwaltskanzleien freiwillig zurückgezogen wurde. Der Impfstoff war in den Verdacht geraten, Autoimmunreaktionen auszulösen, ohne dass es dafür stichhaltige wissenschaftliche Belege gab. Berichte in den Medien führten zu einem drastischen Rückgang der Impfraten. Der Vakzine war quasi das Vertrauen entzogen worden. Zusammen mit der Rücknahme von Lymerix® stoppte der Hersteller auch die Entwicklung des auf die europäische Erregersituation abgestimmten Impfstoffs.

Lymerix® verhinderte die Ansteckung: Lymerix® war ein Einkomponenten-Impfstoff, dessen Antigen aus einem Teil der äußeren Bakterienhülle, dem OspA-Protein, bestand. Die Impfung verhinderte die Ansteckung. Hatte sich eine Zecke festgebissen und Blut gesaugt, gelangten die durch die Impfung induzierten Antikörper mit der Blutmahlzeit in den Darm der Zecken und beseitigten dort die Borrelien. Zweifel an der Sicherheit des Impfstoffs hatte ausgerechnet Alan Steere geweckt, der Entdecker der Lyme-Borreliose und einer der renommiertesten Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Steere veröffentlichte im Juli 1998 zwei Arbeiten. Die erste erschien im N. Engl. J. Med. (1) und stellte die klinischen Ergebnisse der Zulassungsstudie vor, die Lymerix® eine hohe Sicherheit und Effektivität bescheinigte. Steeres zweite Arbeit wurde eine Woche später in Science (2) veröffentlicht. Darin äußerte er die Vermutung, dass der Impfstoff bei einigen Personen eine Autoimmunerkrankung auslösen könnte. Seiner Ansicht nach enthielt das OspA-Antigen einen kurzen Abschnitt, der einem körpereigenen Protein ähnelt. Diese Ähnlichkeit – so spekulierte Steere damals weiter – könnte dazu führen, dass die gegen die Bakterienhülle gerichteten Antikörper auch das humane Protein erkennen und attackieren, was eine chronische Entzündung zur Folge hätte. Steere stützte seine Vermutungen auf tierexperimentelle Studien, bei denen er allerdings unphysiologisch hohe Konzentrationen des Testantigens verwendet hatte. Seine These konnte in der Folge nie bewiesen werden. Steere distanzierte sich deshalb später davon (3) und zog alle Anschuldigungen gegen Lymerix® zurück.

Die Food and Drug Administration (FDA) bescheinigte Lymerix® Unbedenklichkeit: Unmittelbar nach dem Erscheinen von Steeres Bedenken und noch vor der Zulassung des Impfstoffs durch die FDA forderten mehrere US-amerikanische Anwaltskanzleien die Bevölkerung auf, etwaige UAW zu melden. Das hatte eine Welle von Schadensersatzklagen zur Folge. Medienwirksam schoben Anwälte angeblich schwer geschädigte Impfopfer in Rollstühlen in die Gerichtsäle. 2001 ordnete die FDA und das Center for Disease Control (CDC) nach einer Anhörung aller Parteien eine Nachuntersuchung der gemeldeten UAW an. Keine erwies sich als schwerwiegend und bei keiner der mehr als 900 Meldungen ergab sich ein Hinweis darauf, dass ein Zusammenhang zwischen einer Autoimmunreaktion und der Impfung bestand (4). Die FDA sah deshalb keinen Grund, den Impfstoff vom Markt zu nehmen. Der Hersteller tat es trotzdem und hat sich seitdem nicht wieder entschlossen, eine Zulassung für das Produkt oder für den europäischen Impfstoff zu beantragen. Die Zeitschrift „Nature” widmete dem Schicksal von Lymerix® im vergangenen Jahr einen zweiseitigen Hintergrundbericht (5) und ein Editorial (6).

Baxter Vaccines entwickelt jetzt neuen Impfstoff: Markus Simon vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg und seine Kollegen Reinhard Wallich und Michael Kramer von der Universität Heidelberg, die wissenschaftlichen Urheber des Borreliose-Impfstoffs, rechnen nun damit, dass sich andere Unternehmen nach Ablauf des Patentschutzes an ihren wissenschaftlichen Ideen bedienen werden. Vor zwei Jahren kündigte das in Wien ansässige Unternehmen Baxter Vaccines die Entwicklung eines neuen Impfstoffs an. Die Vakzine soll das gleiche bakterielle Antigen wie Lymerix® enthalten, also das OspA-Protein, allerdings ohne das von Steere zunächst beanstandete Fragment. Nach der Rücknahme von Steeres Anschuldigungen sieht Simon dafür keine wissenschaftlichen, sondern nur patentrechtliche Gründe. Die Restlaufzeit für das Lymerix®-Patent beträgt immerhin noch fünf Jahre.

Machenschaften um den MMR (Masern, Mumps, Röteln)-Impfstoff: Auch der MMR-Impfstoff ist bewusst in Misskredit gebracht worden. Dabei ging es auch um persönliche Bereicherung. Die Machenschaften wurden nicht von Wissenschaftlern aufgedeckt, sondern von einer Tageszeitung, der englischen „Sunday Times”. Der Impfstoff war 1998 in den Verdacht geraten, möglicherweise Autismus zu verursachen. Bei acht von zwölf Kindern sollte das autistische Verhalten im unmittelbaren Zusammenhang mit der Impfung stehen. Die vermeintlichen Hinweise waren im Lancet (7) erschienen, was ihnen Gewicht verlieh. Viele Eltern ließen ihre Kinder daraufhin nicht mehr impfen. In England, wo die Verunglimpfung ihren Anfang nahm, starb im vergangenen Jahr erstmals wieder ein Kind an Masern, weil die Immunität in der Bevölkerung durch den Einbruch bei den Impfraten abgenommen hatte. Zunächst ahnte niemand, dass die im Lancet veröffentlichten Belege alles andere als wissenschaftlich solide waren. Die meisten Hinweise basierten auf den Aussagen von Eltern, die eine Schadensersatzklage gegen die Impfstoffhersteller planten. Es ahnte auch niemand, dass sich einige Protagonisten der Anti-Impfkampagne ihre kritische Einschätzung mit stattlichen Summen vergüten ließen. Es ist den hartnäckigen Recherchen der Sunday Times und ihrem Redakteur Brian Deer zu verdanken, dass diese Zusammenhänge Schritt für Schritt aufgedeckt wurden. Vor zwei Jahren berichtete die Zeitung erstmals über die juristischen Absichten der beteiligten Eltern. Jetzt dokumentierte sie das volle Ausmaß der finanziellen Verstrickungen. Demnach erhielten Ärzte und Wissenschaftler, die sich gegen den Dreifachimpfstoff aussprachen, insgesamt fast dreieinhalb Millionen britische Pfund für Beratertätigkeiten, Gutachten oder Forschungsaufträge. Gezahlt wurde das Geld über eine Anwaltskanzlei. Andrew Wakefield, die Galionsfigur der Anti-Impfkampagne, bereicherte sich mit rund einer halben Million Pfund. Fünf der dreizehn Lancet-Autoren erhielten zusammen 183000 Pfund. Auch einer der Gutachter, der die Veröffentlichung für Lancet prüfte, stand mit 40000 Pfund auf der Liste der Begünstigten. Der Rest des Geldes floss an 59 weitere Personen. Die genaue Liste kann im Internet eingesehen werden (8).

Keine unvoreingenommene Auswahl der Studienteilnehmer: Wie die Nachforschungen der Sunday Times weiter zeigen, wurde die Verunglimpfung schon frühzeitig eingefädelt. Sie begann Mitte der Neunziger Jahre mit der Begegnung zwischen Michael Wakefield und dem Rechtsanwalt Richard Barr. Er hatte zum damaligen Zeitpunkt bereits Erfahrungen mit Schadensersatzklagen gegen Arzneimittelhersteller gesammelt und trug sich mit dem Gedanken, Eltern zu vertreten, die den Verdacht hegten, der Autismus ihrer Kinder könne etwas mit deren MMR-Impfung zu tun haben. Wakefield sollte die wissenschaftlichen Belege dafür liefern. Beide beantragten Geld beim Legal Aid Board, einer staatlichen Einrichtung, die mittellosen Engländern hilft, ihre juristischen Interessen zu wahren. Heute trägt diese Organisation den Namen Legal Service Commission. Das Legal Aid Board zahlte 55000 Pfund an das Royal Free Hospital in London, die Klinik, an der Wakefield damals arbeitete. Barr suchte in der Zwischenzeit nach weiteren Eltern, die einen Zusammenhang zwischen dem Autismus ihrer Kinder und der Schutzimpfung vermuteten. Einen Monat nach der Zahlung des Geldes reichte Wakefield den Ethikantrag für die Studie ein, die zwei Jahre später die Grundlage der Veröffentlichung im Lancet bildete. Zur gleichen Zeit, also lange bevor die Impfung öffentlich in Misskredit gebracht worden war, richtete er einen Brief an den damaligen Chief Medical Officer der britischen Regierung Sir Kenneth Calman. Wakefield warnte ihn ausdrücklich davor, Vorschulkinder erneut gegen Masern-Mumps-Röteln impfen zu lassen. Er beendete seinen Brief mit der klaren Forderung: „Do not re-vaccinate”.

Klare Vermischung von Interessen: Die im Lancet veröffentlichten Studienergebnisse wurden 1998 auf einer sorgfältig inszenierten Pressekonferenz vorgestellt. Es fiel kein Wort darüber, dass fünf der acht autistischen Kinder Richard Barrs Klienten waren und nach und nach an Wakefields Klinik überwiesen worden waren. Ihr Schicksal konnte wegen der Vermischung der Interessen kein unabhängiger wissenschaftlicher Hinweis für die krankmachende Wirkung der Impfung sein. Enthüllt wurde dieser Zusammenhang allerdings erst sechs Jahre später durch Brian Deer von der Sunday Times. Elf der dreizehn Autoren distanzierten sich daraufhin von der Veröffentlichung (9). Sie gaben an, nichts von dieser Interessensvermischung gewusst zu haben. Über die privaten Zuwendungen schwiegen alle Beteiligten. Auch Richard Horton, der verantwortliche Redakteur von Lancet, distanzierte sich von der Veröffentlichung (10).

Es waren Patente für die Einzelimpfstoffe beantragt worden: Wakefield äußerte sich während der gesamten Kampagne stets kritisch über den Dreifachimpfstoff, aber nicht über eine zeitlich gestaffelte Vakzinierung mit den Einzelimpfstoffen. 2004 deckten Brian Deer und der britische Fernsehsender Channel 4 auf, dass Wakefield Patente für die Einzelimpfstoffe beantragt hatte. Die Verleumdungsklage, die Wakefield daraufhin gegen den Fernsehsender anstrengte, wurde im Januar fallen gelassen. Wakefield drohen jetzt berufsrechtliche Konsequenzen. Die britische Ärztekammer bereitet eine Anklage gegen ihn vor. Allerdings hat er inzwischen das Land verlassen. Er arbeitet für ein Unternehmen in Austin, Texas. Ein pikantes Detail der derzeitigen Enthüllungen ist, dass einige der dort tätigen Angestellten ebenfalls Geld von der Anwaltskanzlei erhalten haben. Die Schutzimpfung gegen Masern-Mumps-Röteln ist durch die Veröffentlichung dieser Machenschaften sowie durch klinische Studien rehabilitiert worden.

Literatur

  1. Steere, A.C., et al.: N. Engl. J. Med. 1998, 339, 209. Link zur Quelle
  2. Gross, D.M., et al.: Science 1998, 281, 703. Link zur Quelle
  3. Steere A.C., und Glickstein, L.: Nat. Rev. Immunol. 2004, 4, 143. Link zur Quelle
  4. www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/01/briefing/3680b2_06.doc Link zur Quelle
  5. Abbott, A.: Nature 2006, 439, 524. Link zur Quelle
  6. Nature 2006, 439, 509. Link zur Quelle
  7. Wakefield, A., et al.: Lancet 1998, 351, 637. Link zur Quelle
  8. www.timesonline.co.uk/tol/newspapers/sunday_times/britain/article1265373.ece Link zur Quelle
  9. Murch, S.H., et al.: Lancet 2004, 363, 750. Link zur Quelle
  10. Horton, R.: Lancet 2004, 363, 820 15022645. Link zur Quelle