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Leitlinien auf schwachen Beinen?

Bei kardiovaskulären Erkrankungen gelten die in den Richtlinien der europäischen und der großen amerikanischen Fachgesellschaften für Kardiologie (European Society of Cardiology = ESC; American Heart Association/American College of Cardiology = AHA/ACC) enthaltenen Empfehlungen als die evidenzbasierte Entscheidungsgrundlage schlechthin. Zur Klassifizierung der Evidenzlage verwenden die ESC- und ACC/AHA-Leitlinien weitgehend deckungsgleiche Einteilungen nach Empfehlungsklassen I, IIa, IIb und III sowie Evidenzlevel A, B und C (s. Tab. 1).

Die von ESC und ACC/AHA benutzte Einteilung unterscheidet sich von der anderer Organisationen. Einheitliche Regeln werden von der Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation (GRADE) Working Group (1) seit 2000 propagiert und wurden von einigen Organisationen bereits als Standard übernommen, so z.B. von der WHO, der Cochrane Collaboration International, dem American College of Chest Physicians, dem britischen National Health Service und vom deutschen Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin, aber bisher nicht von den großen kardiologischen Fachgesellschaften.

Beim technologisch-medizinischen Fortschritt sowie der seit Jahren steigenden Zahl wissenschaftlicher kardiologischer Publikationen dürfte man eigentlich eine Verbesserung der Leitlinien hinsichtlich Evidenzlage und Konsens erwarten. Eine im Februar im JAMA erschienene Analyse der ACC/AHA-Guidelines scheint jedoch eher das Gegenteil zu belegen (2).

Alle von 1984 bis September 2008 publizierten Clinical Practice Guidelines (CPG) der ACC/AHA wurden systematisch hinsichtlich der Verteilung der Empfehlungen innerhalb der Empfehlungsklassen und Evidenzlevel analysiert. Bei Richtlinien, die mindestens einmal seit ihrem Bestehen revidiert wurden, wurden die verschiedenen Versionen verglichen. Im genannten Zeitraum wurden insgesamt 53 Richtlinien mit 7 196 Einzelempfehlungen zu 22 Themen veröffentlicht (24 erkrankungs-, 15 interventions- und 14 diagnostikbezogen). Im September 2008 waren 17 Richtlinien (mit insgesamt 3 044 Empfehlungen) als „aktuell” auf der ACC-Website gelistet. Von diesen waren 12 in früheren Versionen verfügbar sowie sechs auch in früheren Versionen mit Angabe des Evidenzlevels (Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz, stabile AP, instabile AP, Schrittmacher, perkutane Koronarintervention).

Die Analyse der in mindestens einer Revision vorliegenden Leitlinien ergab eine Zunahme der Empfehlungen von 1 330 auf 1 973 (+ 48%). Der Anteil der Klasse-I-Empfehlungen blieb dabei konstant, der Anteil der Empfehlungsklassen II nahm um 15,3% zu und der Anteil der Empfehlungsklassen III um 16,4% ab. Insbesondere die erkrankungs- und interventionsbezogenen Leitlinien mit Klasse-II-Empfehlungen nahmen zu, während der Anteil der Klasse-I-Empfehlungen abnahm. Nur bei den Diagnostik-Leitlinien ergab sich ein Zuwachs an Klasse-I-Empfehlungen und ein Rückgang bei Klasse-II-Empfehlungen. Insgesamt finden sich in aktuellen Leitlinien 46% Klasse-I-, 41% Klasse-II- und 13% Klasse-III-Empfehlungen.

Evidenzlevel werden (mit Ausnahme der Echokardiographie-Leitlinien) von allen aktuellen Leitlinien angegeben. Von den darin enthaltenen 2 711 Empfehlungen sind nur 11% als Evidenzlevel A, 39% als Evidenzlevel B und 48% als Evidenzlevel C eingestuft. Die meisten Evidenzlevel-A-Empfehlungen gibt es erwartungsgemäß zwar bei den Klasse-I-Empfehlungen, allerdings nur bei 19% (245) aller Klasse-I-Empfehlungen (1 305), während 36% (481) der Klasse-I-Empfehlungen lediglich den Evidenzlevel C haben. Die sechs Leitlinien, die auch in früheren Versionen Evidenzgrade enthielten, wurden durch sechs zusätzliche Evidenzlevel-A-, 13 Evidenzlevel-B- und 24 Evidenzlevel-C-Empfehlungen ergänzt.

Bemerkenswert sind dabei deutliche Unterschiede innerhalb der Leitlinien. So findet sich in den aktuellen Leitlinien zur Behandlung der valvulären Herzkrankheiten (publiziert 2008) lediglich eine einzige Evidenzlevel-A-Empfehlung, hingegen 71% mit Evidenzlevel C. Wesentlich bessere Evidenz geben die Leitlinien bei Herzinsuffizienz, KHK und interventioneller Kardiologie an.

In ihrer Diskussion gehen die Autoren auf die Frage ein, ob Leitlinien überhaupt Empfehlungen ohne wissenschaftliche Evidenzbasis enthalten sollen. Dies wird kontrovers beurteilt. Es kann z.B. argumentiert werden, dass der praktisch tätige Arzt auf möglichst allgemeingültige Empfehlungen angewiesen ist. Andererseits ist die (Industrie-)Unabhängigkeit der Expertenkomitees nicht immer gegeben – eine Situation, die sich besonders dann auswirken kann, wenn mangelnde Evidenz keine klaren Empfehlungen zulässt. Auch wird zunehmend in Frage gestellt, ob Standardempfehlungen nach dem Prinzip „one size fits all” den komplexen Problemen individueller Patienten überhaupt gerecht werden können. Zudem sind gerade in der Kardiologie viele Leitlinien zum Zeitpunkt ihres Erscheinens schon wieder veraltet. Die in dieser Studie untersuchten Aspekte sind ein wichtiger Beitrag zur Grundsatzdiskussion hinsichtlich des generellen Sinns von Leitlinien.

Fazit: Die Gesamtzahl kardiologischer Leitlinien nimmt zu und leider auch der Anteil unsicherer Empfehlungen bei insgesamt sehr dürftiger Evidenzlage. Die „Expertenmeinung” bleibt also in klinischen Entscheidungsprozessen wichtig. Dies ist bemerkenswert, da sich die Autoren kardiologischer Leitlinien auf eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur stützen können. Es ist davon auszugehen, dass in anderen medizinischen Fächern die Situation noch unklarer ist. Anwender von Leitlinien sollten insbesondere bei niedrigem Evidenzlevel und/oder unsicherer Empfehlungsklasse die individuelle klinische Situation des Patienten noch mehr berücksichtigen.

Literatur

  1. www.gradeworkinggroup.org Link zur Quelle
  2. Tricoci, P., et al.: JAMA 2009, 301, 831 19244190. Link zur Quelle

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