In der Rubrik „Perspective” wird im N. Engl. J. Med. (1) die gemeinsame Marketing-Strategie der Firmen Parke-Davis, Warner-Lambert und Pfizer für Neurontin® (Gabapentin) geschildert. Der Blick hinter die Kulissen ist möglich geworden, weil ein junger Mitarbeiter die Firmen darauf verklagt hat, dass sie mit falschen Behauptungen für nicht zugelassene Indikationen (Off-Label-Use) geworben hätten. Es kam zum Prozess. Als Ergebnis erklärten sich die Firmen bereit, mehr als 430 Mio. US$ Strafe und Schadenersatz zu zahlen.
Die im Verlauf der Beweisaufnahme gesammelten Dokumente (8000 Seiten!) sind öffentlich zugänglich und jetzt von einem hochrangigen Verantwortlichen der Cochrane Collaboration wissenschaftlich ausgewertet worden (2). Bei der Werbekampagne der Firmen wurden offenbar gezielt Methoden der Manipulation und Desinformation in großem Stil und mit Wissen und der Akzeptanz vieler Beteiligter eingesetzt: Meinungsbildende Akademiker und andere angesehene Ärzte wurden für ihre Aufgaben in Fort- und Weiterbildung mit jeweils mehr als 150.000 US$ pro Person vier Jahre lang „unterstützt”. Der werbende Charakter von wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurde bewusst verschleiert, die Publikation negativer Ergebnisse verhindert, Ghostwriter schrieben geschönte Therapieberichte, kurz, die Öffentlichkeit wurde gezielt hinters Licht geführt. Das wurde vom Gericht jedoch nicht verurteilt, sondern offenbar für gängige Praxis gehalten. Das Urteil richtet sich allein gegen die Werbung für nicht zugelassene Indikationen.
Der Fall zeigt eindrucksvoll und überzeugend, dass Arzneimittelwerbung die Wissenschaft, den Lehrbetrieb und die Praxis der Medizin korrumpieren kann. Die an den Werbemaßnahmen beteiligten Firmen, Wissenschaftler, Universitäten, Fachgesellschaften, Ärzte, selbst die Aufsichtsbehörden und der Justizapparat hatten offenbar über lange Zeit kein Gefühl für die ernsten ethischen und rechtlichen Probleme, sondern hielten alles für ganz normales Geschäftsverhalten.
Nach Meinung der Autoren sind dringend drastische Maßnahmen erforderlich, die die gängige Praxis analysieren und verändern, da sonst die Medizin in der Öffentlichkeit Ansehen und Vertrauen verliert. Zu den notwendigen Änderungen muss gehören, dass auch in Zukunft Fälle wie dieser mit allen Dokumenten publiziert werden. Außerdem sollten die Strafen für illegale Werbung erhöht und Arzneimittel-Studien von unabhängigen Institutionen durchgeführt und öffentlich finanziert werden. Der Neurontin®-Fall wird diese Diskussion anregen und hoffentlich dazu beitragen, neue Perspektiven zu entwickeln.
Übrigens: aus dem Arzneiverordnungs-Report 2008 geht hervor (3), dass 2007 25,8 Mio. Tagesdosen Gabapentin zum Preis von je 2,87 € verordnet wurden. Als Koanalgetikum ist Amitriptylin eine geeignete Alternative. Tagestherapiekosten 0,43 €.
Literatur
- Landefeld, C.S., und Steinman, M.A.: N. Engl. J. Med. 2009, 360, 103. Link zur Quelle
- Dickersin, K.: http://www.pharmalot.com/wp-content/uploads/2008/10/neurontin-dickersin-2.pdf Link zur Quelle
- Schwabe, U., und Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2008. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2008.