Es ist zwar durchaus üblich, die Otitis media bei Kindern mit Antibiotika zu behandeln, doch die Evidenz für den Nutzen ist bescheiden, und die Leitlinien sprechen sich gegen die generelle Therapie mit Antibiotika aus. So kommen Cochrane-Autoren in ihrem zuletzt 2008 revidierten und 2010 veröffentlichten Review (1) zu dem Schluss, dass bei mildem Verlauf durchaus auf Antibiotika verzichtet werden kann. Wenn überhaupt, so läge der Nutzen auf einer geringfügigen Reduktion von Ohrenschmerzen, die aber auch symptomatisch behandelt werden könnten. Die Komplikationsrate (Trommelfellperforation, Mastoiditis, abnorme Tympanometrie nach Abheilen der akuten Erkrankung) wird laut Cochrane Review durch Antibiotika nicht signifikant gesenkt. Wir kamen daher in der Analyse des Cochrane-Reviews und einer weiteren Metaanalyse (2) 2006 zu dem Schluss, dass Antibiotika nur bei Kindern unter zwei Jahren mit beidseitiger Otitis media oder Otorrhö und bei schweren Komplikationen sinnvoll seien (3).
Im N. Engl. J. Med. werden nun zwei Studien präsentiert, die doch generelle Vorteile der Antibiotikatherapie bei Kindern zwischen 6 und 35 Monaten zu belegen scheinen (4, 5). Für die erste Studie (4) wurden in einem Gesundheitsbezirk in Südwest-Finnland 319 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und drei Jahren mit akuter Otitis media in zwei Gruppen randomisiert, die doppeltblind entweder Amoxicillin-Clavulansäure oder Plazebo erhielten. In beiden Gruppen durften ad libitum orale fiebersenkende und Schmerzmedikamente, schmerzlindernde Ohrentropfen sowie abschwellende Nasentropfen verwendet werden. Als primärer Endpunkt der Studie wurde „Therapieversagen” definiert, das als mindestens eines der folgenden Ereignisse verstanden wurde: keine Besserung des Gesamtzustandes in der Einschätzung der Eltern am dritten Tag nach Beginn der Medikation, eine Verschlechterung des Gesamtzustands in der Einschätzung der Eltern zu irgendeinem Zeitpunkt, keine Besserung des otoskopischen Befundes nach acht Tagen, Trommelfellperforation bzw. Zeichen einer schweren Allgemeininfektion zu irgendeinem Zeitpunkt, Beendigung der Studienmedikation zu irgendeinem Zeitpunkt (z.B. wegen der Notwendigkeit einer weitergehenden Antibiose). Insgesamt kam es in der Antibiotika-Gruppe bei 18,6% der Kinder zum „Therapieversagen”, in der Plazebo-Gruppe bei 44,9% (absolute Risikoreduktion: 26,3%; CI = 16,1%-36,5%; p < 0,001; Number needed to treat = NNT: 4).
Als sekundäre Endpunkte wurden die Tage erfasst, die die Kinder nicht in der Krippe betreut werden konnten und die Eltern von der Arbeit zu Hause bleiben mussten. Auch hier zeigte sich ein deutlicher Vorteil für die Antibiotikabehandlung. Die mit Amoxicillin-Clavulansäure behandelten Kinder mussten 15,9% der Nachbeobachtungstage zu Hause bleiben, die Kinder der Plazebo-Gruppe 25,4% der Tage. Die Eltern der Antibiotika-Gruppe versäumten an 12,1% der Nachbeobachtungstage ihre Arbeit, in der Plazebo-Gruppe waren es 17,8%.
Die Vorteile der Antibiotikabehandlung wurden mit signifikant häufigeren UAW erkauft. UAW traten bei 52,8% in der Antibiotika-Gruppe, aber nur bei 36,1% der Plazebo-Gruppe auf (absolute Risikozunahme: 16,7%; CI: 5,8%-27,6%; p = 0,003). Am häufigsten waren Durchfall und Erbrechen, weniger häufig waren Hautausschläge.
Es stellt sich die Frage, ob diese Studienergebnisse ausreichen, die bisherigen Empfehlungen einer sehr zurückhaltenden Antibiotikatherapie zu revidieren. Zunächst ist anzumerken, dass die Validität der Ergebnisse davon abhängt, ob die Verblindung, u.a. wegen des charakteristischen (Urin)-Geruchs von Amoxicillin, sicher gelungen ist. Wenn Eltern (und Ärzte) vermuten können, dass ihr Kind kein Antibiotikum erhält, werden sie dazu neigen, Therapieversagen zu diagnostizieren. Der Erfolg dieser Verblindung kann nicht bewiesen werden. Es ist auffällig, dass der „dramatische Vorteil” einer absoluten Risikoabnahme von etwa 25% nur auf einen, etwas merkwürdig anmutenden kombinierten Endpunkt zutrifft. Betrachtet man die Einzelkomponenten, so zeigt sich, dass für vier der sechs Komponenten kein statistisch signifikanter Vorteil besteht (keine Besserung an Tag 3, Trommelfellperforation, Zeichen einer schweren Allgemeininfektion, Beendigung der Studienmedikation). Nur im Punkt Befundverschlechterung nach Einschätzung der Eltern zu irgendeinem Zeitpunkt und otoskopischer Befund war die Antibiotikatherapie günstiger, allerdings nur mit einer Differenz von etwa 10% im absoluten Risiko, was einer NNT von 10 entspricht. Berücksichtigt man, dass es sich bei der Einschätzung der Eltern um einen sehr subjektiven Messwert und beim Otoskopiebefund um einen Surrogatparameter mit eingeschränkter klinischer Relevanz handelt, so ist der Vorteil der Antibiotikatherapie doch deutlich geringer als es auf den ersten Blick erscheint.
Als nächstes gilt es, die negativen Auswirkungen der Antibiotikabehandlung detailliert zu betrachten: 47,8% der Kinder in der Antibiotika-Gruppe litten unter Durchfall, gegenüber nur 26,6% in der Plazebo-Gruppe (p < 0,001). Dies entspricht einer absoluten Risikozunahme von 20% und damit einer Number needed to harm (NNH) von 5. Auch Hautausschläge traten – für sich genommen – signifikant häufiger auf (absolute Risikozunahme 5%, NNH: 20). Behandelt man also zehn Kleinkinder mit akuter Otitis media mit Amoxicillin-Clavulansäure, hat nur eines einen (marginalen) Nutzen davon, während zwei eine akute Diarrhö durch die Therapie bekommen. Hinzu kommt das Risiko einer Resistenzentwicklung als Folge der antibiotischen Therapie und das höhere Rezidivrisiko nach antibiotischer Behandlung, über das wir berichtet haben (5). Insgesamt sind die Ergebnisse dieser Studie unseres Erachtens nicht geeignet, die bestehenden – sehr zurückhaltenden - Empfehlungen zur Antibiotikatherapie der Otitis media bei Kindern zu revidieren.
Als letztes Argument für eine Antibiotikatherapie bleiben die versäumten Arbeitstage der Eltern. Bei den 161 mit Antibiotika behandelten Kindern mussten die Eltern insgesamt 20 Tage weniger von der Arbeit fern bleiben als die Eltern der Plazebo-Gruppe. Das entspricht 59 Minuten vermisster Arbeitszeit weniger pro Kind. Auch dieser Vorteil erscheint uns kaum geeignet, eine nebenwirkungsreiche Antibiotikatherapie zu rechtfertigen.
In der zweiten Studie (291 Kinder im Alter zwischen 6 und 23 Monaten mit akuter Otitis media) waren die Vorteile der Therapie mit Amoxicillin-Clavulansäure ebenfalls nur gering (6).
Fazit: Eine aktuelle Studie (4) scheint auf den ersten Blick einen deutlichen Vorteil für die antibiotische Behandlung der Otitis media mit Amoxicillin-Clavulansäure bei Kleinkindern zu belegen. Die nähere Analyse zeigt, dass sich der große Vorteil durch Wahl eines zusammengesetzten Endpunkts aus subjektiven und Surrogatparametern errechnet und bei detaillierter Betrachtung nur marginal ist. Er wird durch häufigere UAW erkauft. Die derzeitigen Empfehlungen, Antibiotika bei Kleinkindern über sechs Monaten mit Otitis media nur in komplizierten Situationen (beidseitige Otitis media, Otorrhö, Zeichen einer schwerwiegenden Allgemeininfektion) einzusetzen, müssen unseres Erachtens nicht revidiert werden.
Literatur
- Sanders, S., et al.:Cochrane Database Syst. Rev. 2004, 1, CD00219. Link zur Quelle
- Rovers, M.M.,et al.: Lancet 2006, 368, 1429. Link zur Quelle
- AMB 2006, 40, 85. Link zur Quelle
- Tähtinen, P.A., et al.:N. Engl. J. Med. 2011, 364, 116. Link zur Quelle
- AMB 2009, 43, 85a. Link zur Quelle
- Hoberman, A., et al.: N.Engl. J. Med. 2011, 364, 105. Link zur Quelle