Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wann bei kritisch kranken Patienten, die ihren Kalorienbedarf auf enteralem Weg nicht ausreichend decken können, mit einer parenteralen Ernährung begonnen werden sollte. Die enterale Ernährung ist mit weniger Komplikationen assoziiert und billiger (1). Bei kritisch kranken Patienten gelingt es aber häufig nicht, den Kalorienbedarf enteral zu decken (2). Unterernährung ist mit erhöhtem Infektionsrisiko, einer längeren Notwendigkeit für mechanische Beatmung und mit Tod assoziiert (3-5). Eine zusätzliche parenterale Ernährung – meist mit Glukoselösungen – ist wiederum mit Risiken einer Leberschädigung und häufigeren nosokomialen Infektionen, besonders der Lunge, assoziiert (6-7). Die Empfehlungen der Fachgesellschaften zu dieser Frage stützen sich bisher hauptsächlich auf Expertenmeinungen und sind unterschiedlich zwischen Europa und den USA. Die Richtlinie der Europäischen Gesellschaft für parenterale und enterale Ernährung (ESPEN) empfiehlt eine parenterale Ernährung innerhalb von zwei Tagen nach Aufnahme auf eine Intensivstation, wenn eine ausreichende enterale Ernährung nicht möglich ist (8). Die Richtlinie der entsprechenden US-amerikanischen und der kanadischen Gesellschaft empfiehlt bei diesen Patienten den Beginn der parenteralen Ernährung erst nach einer Woche (9).
In einer aktuellen multizentrischen randomisierten kontrollierten Studie werden nun die Ergebnisse dieser beiden Strategien miteinander verglichen (10). Dazu wurden 2.312 Intensivpatienten (APACHE-II-Score 23 ± 11) mit nicht ausreichender enteraler Kalorienversorgung in eine Gruppe mit früher parenteraler Zusatzernährung (innerhalb von 48 Stunden, europäische Richtlinie; Gruppe F) und 2.328 Intensivpatienten (APACHE-II-Score 23 ± 10) in eine Gruppe mit später parenteraler Zusatzernährung (nicht vor dem 8. Tag, US-amerikanische und kanadische Richtlinie; Gruppe S) randomisiert. Patienten der Gruppe F bekamen i.v. 20%ige Glukose (am ersten Tag 400 kcal, am zweiten Tag 800 kcal pro Tag). Erhöhte Glukosewerte im Blut wurden mit Insulin reguliert. Ab dem 3. Tag wurde mit einer parenteralen Lösung (OliClinomel oder Clinimix, Baxter) die Ernährung so ergänzt, dass mit enteraler plus parenteraler Ernährung der Kalorienbedarf zu 100% gedeckt wurde. Die enterale Ernährung erfolgte in beiden Gruppen über eine Duodenalsonde. In beiden Gruppen wurden über diesen Weg auch Spurenelemente, Salze und Vitamine substituiert. Patienten in Gruppe S erhielten in den ersten sieben Tagen 5%ige Glukose und insgesamt die gleichen Flüssigkeitsmengen wie Gruppe F. Primäre Endpunkte waren die Verlegung von der Intensivstation in den ersten acht Tagen, die Todesrate auf der Intensivstation und im Krankenhaus und das Überleben nach 90 Tagen. Sekundäre Endpunkte waren das Auftreten neuer Infektionen, Dauer der Antibiotikatherapie, Entzündungszeichen, Zeit bis zur Entwöhnung von der mechanischen Beatmung und Inzidenz des akuten Nierenversagens.
Die 90-Tage-Überlebenszeit war in beiden Gruppen nicht unterschiedlich (Letalität 11,2%). Die Patienten der Gruppe S hatten jedoch eine höhere Wahrscheinlichkeit, früher von der Intensivstation verlegt und aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Sie hatten weniger Neuinfektionen auf der Intensivstation (22,8% vs. 26,2%; p = 0,008) und seltener eine Cholestase. Auch waren die Dauer der mechanischen Beatmung und die Dauer einer Nierenersatz-Therapie kürzer und die Behandlungskosten niedriger.
Fazit: In dieser Studie erholten sich kritisch kranke, erwachsene Patienten, die sich nicht ausreichend enteral ernähren konnten und bei denen nicht vor dem 8. Tag mit einer parenteralen Zusatzernährung begonnen wurde, schneller. Sie hatten auch weniger Komplikationen als vergleichbare Patienten, die die parenterale Zusatzernährung bereits nach 48 Stunden erhielten. Die Richtlinie der europäischen Gesellschaft sollte daher überdacht werden.
Literatur
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