Wir hatten anlässlich der Zulassung von Ibrutinib (Imbrovica®) vor kurzem über eine neue Klasse von Wirkstoffen berichtet, die gezielt die Signalübertragung über den B-Zell-Rezeptor (B-cell receptor = BCR) unterbrechen (1). An diese neue Wirkstoffklasse werden große Hoffnungen geknüpft, denn sie unterbrechen nicht nur die für das Überleben reifer maligner B-Zellen notwendigen Signalwege, sondern verhindern auch durch Blockierung der über Chemokin-Rezeptoren vermittelten Signale, dass sich maligne B-Lymphozyten in einer protektiven Nische in Lymphknoten ansiedeln (2). Da maligne B-Zellen in die Blutbahn ausgeschwemmt werden, sind sie für kombinierte Therapiestrategien leichter erreichbar als im Lymphknoten – beispielsweise mit der Kombination von Idelalisib plus einem gegen CD20 gerichteten monoklonalen Antikörper.
Idelalisib (Zydelig®) hat im Juli 2014 zusammen mit Ibrutinib (Imbruvica®) vom Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ein positives Votum für die Marktzulassung erhalten, und am 18. September 2014 erteilte die Europäische Kommission eine Genehmigung für das Inverkehrbringen von Idelalisib in der gesamten Europäischen Union (3, 4). Idelalisib ist ein oral einzunehmender Hemmstoff der Phosphatidylinositol-3-Kinase p110δ (PI3K δ). Diese ist bei reifen B-Zell-Neoplasien, wie der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) und follikulären Lymphomen (FL), überaktiv und dient als wichtiges Enzym für die Synthese einer Reihe von „second messengers“. Hemmstoffe der PI3K δ beeinflussen verschiedene Signaltransduktionswege, die Proliferation, Überleben, Homing und Retention maligner Zellen in Lymphknoten und Knochenmark vermitteln (5). Idelalisib wurde zugelassen zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit CLL in Kombination mit Rituximab. Die Patienten müssen zuvor mindestens eine Therapie erhalten haben oder können Idelalisib bei Vorliegen einer 17p-Deletion oder einer TP53-Mutation als Erstlinientherapie erhalten, wenn sie für eine Chemo-/Immuntherapie ungeeignet sind (5). Gleichzeitig wurde Idelalisib als Monotherapie zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit FL zugelassen, die bereits mit zwei vorausgegangenen Therapielinien behandelt wurden und deren Erkrankung refraktär ist (2, 6-8). Grundlage für die bisher zugelassenen Anwendungsgebiete sind zwei klinische Studien, deren Ergebnisse im März 2014 im N. Engl. J. Med. berichtet wurden (6, 7).
In einer multizentrischen, doppelblinden, randomisierten, plazebokontrollierten Phase-III-Studie (GS-US-312-02-0116, gesponsert von Gilead Sciences) wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Idelalisib plus Rituximab mit Rituximab plus Plazebo verglichen (6). Die Begründung für die Verwendung von Rituximab im Kontroll-Arm – Empfehlung in Leitlinien des National Comprehensive Cancer Network bzw. häufige Verschreibung in den USA – ist unzureichend, denn Rituximab ist als Monotherapie der CLL in Europa nicht zugelassen und wird auch nicht von Leitlinien empfohlen. Primärer Endpunkt dieser Studie war das progressionsfreie Überleben (PFS). Sekundäre Endpunkte waren laut Publikation das Gesamtüberleben (OS), die Ansprechrate und das Ansprechen der Lymphadenopathie; die letzten beiden Parameter wurden jeweils ermittelt anhand regelmäßig durchgeführter Laboruntersuchungen (hämatologische Parameter) und bildgebender Verfahren (Computer- und Kernspintomographie). Im Europäischen Öffentlichen Beurteilungsbericht (EPAR) wird als weiterer sekundärer Endpunkt die gesundheitsbezogene Lebensqualität (health-related quality of life = HRQL) erwähnt; über Ergebnisse zur Ermittlung der HRQL wird jedoch ausschließlich im EPAR berichtet (8). Es wurden insgesamt 220 Patienten mit rezidivierter CLL eingeschlossen, die innerhalb von 24 Monaten nach letzter Behandlung einen Progress der CLL zeigten und wegen schwerer Neutro- oder Thrombopenie, einer Kreatininclearance < 60 ml oder Komorbiditäten für eine Chemo-/Immuntherapie ungeeignet erschienen (6). Nach Randomisierung wurden die Patienten wie folgt behandelt: entweder mit Rituximab intravenös mit insgesamt acht Infusionen – initial alle zwei Wochen, die letzten drei Infusionen alle vier Wochen (täglich 375 mg/m2 initial, dann 500 mg/m2) plus Idelalisib (zweimal täglich 150 mg per os) oder mit Rituximab (Dosierung wie im Verum-Arm) plus Plazebo (zweimal täglich). Die Patienten wurden stratifiziert anhand prognostisch ungünstiger genetischer Veränderungen wie 17p-Deletion, TP53-Mutation und Fehlen einer somatischen Hypermutation im Gen, das die variable Region der schweren Ketten der Immunglobuline (immunoglobulin heavy-chain variable region = IGHV) kodiert. Das mediane Alter der Patienten lag in beiden Gruppen bei 71 Jahren, etwa zwei Drittel der Patienten befanden sich im Rai-Stadium III oder IV, etwa 45% hatten eine 17p-Deletion oder eine TP53-Mutation und bei mehr als 80% fand sich eine nicht-mutierte IGHV. Die Patienten hatten im Median drei Vortherapien erhalten. Etwa 90% waren vorbehandelt mit Rituximab und etwas mehr als die Hälfte mit Fludarabin und Bendamustin. Die Studie wurde nach der ersten geplanten Zwischenanalyse wegen einer deutlichen Überlegenheit von Idelalisib plus Rituximab (PFS nach 24 Wochen: 93%) im Vergleich zum Kontroll-Arm (PFS: 46%) abgebrochen. Zum Zeitpunkt der Publikation der klinischen Studie war das mediane PFS im Idelalisib-Arm noch nicht erreicht und betrug im Kontroll-Arm 5,5 Monate (HR: 0,15; p < 0,001). Mit Idelalisib behandelte Patienten zeigten deutlich bessere Ansprechraten (81% versus 13%; p < 0,0001) und auch ein signifikant längeres Gesamtüberleben nach 12 Monaten (92% versus 80%; HR: 0,28; p = 0,02). Der Unterschied zwischen beiden Therapiearmen ist besonders bemerkenswert hinsichtlich der guten Ansprechrate (70-80%) auf Idelalisib von Patienten mit prognostisch ungünstigen genetischen Faktoren. Schwere Nebenwirkungen (Grad ≥ 3 entsprechend CTCAE = Common Terminology Criteria for Adverse Events) traten bei 40% der mit Idelalisib und Rituximab bzw. bei 35% der Patienten im Kontroll-Arm auf. Sie führten bei neun mit Idelalisib behandelten Patienten (8%) und bei elf Patienten (10%) im Kontroll-Arm zum Abbruch der Studie. Schwere Nebenwirkungen waren vor allem Pneumonien, Fieber und febrile Neutropenien. In vorausgegangenen Phase-I-Studien führte Idelalisib auch häufiger zu Erhöhung der Transaminasen, Hautveränderungen und schwerer Diarrhö. Da die Studie vorzeitig abgebrochen wurde, können relativ spät unter Idelalisib auftretende schwere Nebenwirkungen, wie Diarrhö und Kolitis, jedoch nicht sicher beurteilt werden. Bei der nur im EPAR berichteten und bisher nicht publizierten Auswertung der HRQL fand sich eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität für die mit Idelalisib plus Rituximab behandelten Patienten, die vermutlich auf eine schnellere und länger andauernde Symptomkontrolle bei diesen Patienten zurückzuführen ist (8).
Die Zulassung von Idelalisib bei Patienten mit vorbehandeltem FL basiert auf einer multizentrischen, einarmigen Phase-II-Studie, ebenfalls gesponsert von Gilead Sciences (7). In dieser Studie wurden insgesamt 125 Patienten mit rezidivierten oder refraktären indolenten Non-Hodgkin-Lymphomen behandelt, darunter 72 Patienten mit FL. Die Patienten erhielten Idelalisib ebenfalls per os in einer Dosierung von 150 mg zweimal täglich. Die Therapie wurde fortgeführt bis sich ein Fortschreiten der Erkrankung zeigte, inakzeptable Nebenwirkungen auftraten oder der Patient starb. Primärer Endpunkt der Studie war die Ansprechrate, die von einem unabhängigen Komitee beurteilt wurde; sekundäre Endpunkte umfassten die Zeit bis zum Ansprechen, die Dauer des Ansprechens, das PFS und das OS. Das mediane Alter der Gesamtgruppe lag bei 64 Jahren, etwa zwei Drittel der Patienten waren männlich, und knapp 90% der Patienten befanden sich in einem fortgeschrittenen Stadium III oder IV ihrer Erkrankung. Im Median hatten die Patienten bereits vier Therapien erhalten. Alle Patienten waren zuvor mit Rituximab und alkylierenden Zytostatika behandelt worden. Bei Patienten mit FL betrug die Ansprechrate 57,6% und die mediane Zeit bis zum Ansprechen 1,9 Monate. Das mediane PFS lag bei 11 Monaten und das geschätzte OS bei 20 Monaten (8). Die mediane Beobachtungsdauer dieser Studie betrug 9,7 Monate. Folgende Nebenwirkungen traten bei mehr als 20% der Patienten auf: Diarrhö, Fatigue, Übelkeit, Husten und Fieber – als schwere Nebenwirkungen (Grad ≥ 3) Diarrhö, Pneumonie und Dyspnoe. Pathologische Laborwerte betrafen vorwiegend schwere Neutropenie (27% der Patienten) und erhöhte Transaminasen (13%). Von insgesamt 28 Todesfällen traten 11 (!) – u.a. infolge Pneumonie bzw. Pneumonitis und septischem Schock – während oder innerhalb von 30 Tagen nach letzter Einnahme von Idelalisib auf. Leider geht aus der Publikation nicht hervor, wie viele Patienten mit FL unter oder kurz nach Beendigung der Therapie mit Idelalisib gestorben sind.
Idelalisib unterliegt einer zusätzlichen Überwachung (Kennzeichnung:▼ vgl. 9; 5). In einem umfangreichen Risikomanagementplan sind alle Studien aufgelistet, die nach der Zulassung langfristige Sicherheit und Wirksamkeit weiter untersuchen sollen (10). Warnhinweise der FDA aus 2014 weisen ausdrücklich hin auf schwerwiegende bzw. tödlich verlaufende Nebenwirkungen wie Hepatotoxizität, Pneumonitis, Diarrhö, Kolitis und intestinale Perforation (5, 11). Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Interaktionen mit anderen Arzneimitteln (CYP3A-Induktoren bzw. -Substraten), die vor allem bei älteren Patienten mit CLL und mehreren Komorbiditäten beachtet werden müssen (5). Die Kosten für eine Therapie über 30 Tage mit Idelalisib (zweimal 150 mg/d) betragen entsprechend Lauertaxe 5.572,97 € (12).
Fazit: Die Ergebnisse der beiden Studien, auf denen die beschleunigte Zulassung von Idelalisib zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie bzw. mit follikulärem Lymphom basiert, sind leider wenig aussagefähig – vor allem aufgrund der Schwachpunkte im Design (ungeeigneter Kontroll-Arm bzw. unkontrollierte Phase-II-Studie), kurzer Nachbeobachtungsdauer und Verwendung von vorwiegend Surrogatendpunkten als Beleg für die Wirksamkeit. Daten aus weiteren, derzeit laufenden klinischen Studien, vor allem der Phase-III, sind deshalb unbedingt erforderlich, um den therapeutischen Nutzen von Idelalisib zu erhärten, das Auftreten schwerer Nebenwirkungen bei längerfristiger Einnahme und an größeren Patientenzahlen zu untersuchen und offene Fragen zu beantworten – beispielweise zum Zeitpunkt des Auftretens von Resistenzen gegenüber Idelalisib und den hierfür verantwortlichen Mechanismen bei malignen B-Zell-Lymphomen.
Literatur
- AMB 2014, 48, 59. Link zur Quelle
- Fruman, D.A., und Cantley, L.C.: N. Engl. J. Med. 2014, 370,1061. Link zur Quelle
- http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/ document_library/Press_release/2014/07/WC500170188.pdf Link zur Quelle
- http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/ document_library/Summary_of_opinion_-_Initial_authorisation/human/003843/ WC500170181.pdf Link zur Quelle
- http://www.fachinfo.de/suche/fi/020354 Link zur Quelle
- Furman, R.R., et al.: N. Engl. J Med. 2014, 370, 997. Link zur Quelle
- Gopal, A.K., et al.: N. Engl. J Med. 2014, 370, 1008. Link zur Quelle
- http://www.ema.europa.eu/ docs/de_DE/ document_library/EPAR_-_Summary_for_the_public/human/003843/WC500175380.pdf Link zur Quelle
- AMB 2013, 47, 24. Link zur Quelle
- http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/ EPAR_-_Risk-management-plan_summary/ human/003791/WC500169993.pdfLink zur Quelle
- http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2014/206545lbl.pdf Link zur Quelle
- http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/NA/Archiv/201416-Zydelig.pdf Link zur Quelle