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Invasive Beatmung ohne Sedierung – und ohne Vorteil

Bei kritisch kranken Patienten, die über einen endotrachealen Tubus maschinell beatmet werden müssen, wird nach den aktuellen Leitlinien (1, 2) eine patientengerechte Analgesie, in der Regel mit Opiaten, und eine Sedierung mit Propofol oder einem Benzodiazepin wie Midazolam empfohlen. So können Schmerzfreiheit und die notwendige Toleranz gegenüber dem Tubus erreicht werden unter Vermeidung von Stress und Angst. Zur Dämpfung bei Agitation und Tachykardien, z.B. in der Entwöhnungsphase, können Alpha-2-Agonisten wie Clonidin als Bolus oder kontinuierlich i.v. eingesetzt werden. Bei psychotischen Symptomen und Halluzinationen kommen Neuroleptika zum Einsatz.

Als Goldstandard zur Messung der Sedierungstiefe gilt die Richmond Agitation-Sedation Scale (RASS), eine 9-stufige Skala, wobei -5 eine tiefe Narkose und +4 ein aggressiv agitiertes Verhalten abbildet (3). Bei einem optimalen RASS-Wert von -1 kann der Patient auf Ansprache die Augen öffnen und den Untersucher mindestens 10 Sekunden lang fixieren. Für tiefer sedierte Patienten mit einem RASS ≤ -2 wird eine tägliche Unterbrechung der Sedierung mit Aufwachversuchen empfohlen, sofern keine Kontraindikationen vorliegen (4, 5). Diese Strategie führte in Studien zu einer Verkürzung des Aufenthalts auf der Intensivstation (ITS) und zu weniger Beatmungstagen (6), sowie zu kürzerem stationärem Gesamtaufenthalt und niedrigerer Letalität (7).

Moderne Beatmungsgeräte sind inzwischen so komfortabel und der physiologischen Atemmechanik soweit angepasst, dass eine tiefere Sedierung nur noch ausnahmsweise nötig ist. In einer monozentrischen Studie aus dem Jahr 2010 wurden sogar Behandlungsverläufe ganz ohne sedierende Medikation beschrieben und mit solchen unter leichter Sedierung und täglichen Aufwachversuchen verglichen. Dabei ergab sich eine Verkürzung der Liegedauer bei nicht sedierten Patienten (8). Ob dieses Vorgehen allerdings auch die Letalität reduziert, konnte wegen der fehlenden „statistischen Power“ dieser Studie nicht beantwortet werden. Dieser ungelösten Frage ging jetzt eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte multizentrische, randomisierte, kontrollierte Studie aus Skandinavien nach (9).

Methodik: In 8 Zentren in Norwegen, Dänemark und Schweden wurden von 2014 bis Ende 2017 von 2.300 gescreenten, erwachsenen Patienten 700 eingeschlossen bei denen – endotracheal innerhalb von 24 h vor Einschluss intubiert – davon ausgegangen wurde, dass sie voraussichtlich länger als 24 h beatmet werden würden. Es durfte keine Indikation für eine Sedierung bestehen, wie es beispielsweise für eine Beatmung in Bauchlage oder bei einem Polytrauma erforderlich ist. Ausgeschlossen wurden Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, therapeutischer Hypothermie, Status epilepticus, nicht medikamentös induziertem Koma bei Aufnahme sowie schwerstem Lungenversagen, definiert als Quotient aus dem Sauerstoff-Partialdruck (in mm Hg) und Sauerstoffkonzentration in der Beatmungsluft (in %) von ≤ 68. Die Randomisierung erfolgte unverblindet 1:1 in eine Gruppe ohne Sedativa (n = 354) mit einer Bedarfsmedikation von Morphin neben Paracetamol, ggf. auch einer Epiduralanästhesie, sowie in eine Gruppe mit zusätzlich regelhafter Sedierung mit Propofol oder Midazolam (n = 356) unter Kontrolle des Wachheitsgrades mittels RASS-Score. War ein Patient aus der Gruppe ohne Sedierung mit Morphin nicht ausreichend zu behandeln, dann konnten Sedativa wie in der Gruppe mit Sedierung eingesetzt werden. Die Patienten in der Sedativa-Gruppe wurden auf einen RASS-Score von -2 bis -3 eingestellt. In morgendlichen Aufwachversuchen mussten diese unter Pausieren der Sedativa 3 von 4 Aufforderungen korrekt befolgen können. Bei einem positiven endexspiratorischen Druck (PEEP) von 5 und einer FiO2 < 40% wurde die Sedierung im weiteren Entwöhnungsprozess nicht wieder aufgenommen. Zweimal täglich im Abstand von 12 h wurde auch das Delirstadium mit dem CAM-ICU-Score geprüft (10). Zur Behandlung eines Delirs waren Haloperidol und Olanzapin möglich. Bei Unruhezuständen konnte Clonidin verabreicht werden.

Der primäre Studienendpunkt war die Gesamtletalität nach 90 Tagen. Zu den sekundären Endpunkten zählten u.a. thromboembolische Ereignisse, akutes Nierenversagen, die Zahl der Tage ohne Koma oder Delir, sowie die Zahl unruhebedingter Selbstextubationen mit der Notwendigkeit zur Reintubation.

Ergebnisse: Die Patienten waren im Median 70 bzw. 72 Jahre alt. Etwa 30% wurden aus chirurgischen und ca. 70% aus internistischen Ursachen intubiert, davon > 40% wegen Pneumonie oder Lungenversagen; nur 6% bzw. 7% der Patienten hatten eine COPD. Die Charakteristika der Patienten waren in beiden Gruppen etwa gleich. Der mittlere RASS-Score betrug in der Sedierungsgruppe -2,3 zu Beginn und -1,8 am Tag 7. Am Tag 1 erhielten 27% der nicht sedierten Patienten doch ein Sedativum (im Verlauf von 7 Tagen 38,4%), überwiegend wegen eines Delirs. Der mittlere RASS-Score betrug zunächst -1,3, dann -0,8. Nach 90 Tagen waren 148 Patienten (42,4%) in der Gruppe ohne regelhafte Sedierung gestorben, im Vergleich zu 130 Patienten mit Sedierung (37,0%; Relatives Risiko: 1,10; 95%-Konfidenzintervall: 0,9-1,35; nicht signifikant). Die Kaplan-Meier-Überlebenskurven gehen ab dem Tag 15 auseinander.

Thromboembolische Ereignisse waren trotz medikamentöser Thromboseprophylaxe häufiger unter Sedierung (2,8% vs. 0,3%). Die Tage ohne Koma oder Delir waren nicht signifikant unterschiedlich. Der Unterschied im Verbrauch von Morphin im Verlauf von 7 Tagen war vernachlässigbar klein. Es zeigte sich auch kein relevanter Unterschied in der Nierenfunktion. Eine Selbstextubation durch den Patienten mit Notwendigkeit einer Reintubation ereignete sich bei 4 Patienten ohne und bei einem mit Sedierung.

Zu beachten ist, dass die Studie mit einem Pflege-Patienten-Schlüssel von 1:1 durchgeführt wurde, einer Betreuung, die im deutschen und österreichischen Klinikalltag eher ungewöhnlich hoch ist. Eine Übertragung der Ergebnisse auf hiesige ITS ist daher schwer. Aber selbst unter diesen optimalen Bedingungen zeigte sich kein Vorteil.

Fazit: Eine invasive Beatmung ohne die übliche Sedierung führt im Vergleich zur Standardbehandlung mit leichter Analgosedierung und täglichen Aufwachversuchen nicht zu einer verminderten Sterblichkeit nach 90 Tagen. Auch auf sekundäre Endpunkte, wie beispielsweise die Häufigkeit von Deliren, gab es keinen positiven Einfluss dieser Strategie. Eine leichte Sedierung mit täglichen Aufwachversuchen bleibt hinsichtlich Patientensicherheit und Komfort weiterhin ein vernünftiges Konzept. Zu dieser Einschätzung kommt auch ein entsprechendes Editorial (11).

Literatur

  1. https://www.awmf.org/uploads/ tx_szleitlinien/001-021l_S3_Invasive_Beatmung_2017-12.pdf Link zur Quelle

  2. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/ PMC4645746/pdf/GMS-13-19.pdf Link zur Quelle

  3. Sessler, C.N., et al.: Am. J. Respir. Crit. Care Med. 2002, 166, 1338. Link zur Quelle https://www.atsjournals.org/doi/pdf/10.1164/rccm.2107138

  4. Petty, T.L., et al.: Chest 1998, 114, 360. Link zur Quelle

  5. Devlin, J.W., et al.: Crit. Care Med. 2018, 46, e825. Link zur Quelle

  6. Girard, T.D., et al.: Lancet 2008, 371, 126. Link zur Quelle

  7. Kress, J.P., et al.: N. Engl. J. Med. 2000, 342, 1471. Link zur Quelle

  8. Strøm, T., et al.: Lancet 2010, 375, 475. Link zur Quelle

  9. Olsen, H.T., et al. (NONSEDA = NONSEDAtion versus sedation with a daily wake-up trial in critically ill patients receiving mechanical ventilation): N. Engl. J. Med. 2020, 382, 1103. Link zur Quelle

  10. Ely, E.W., et al.: Crit. Care Med. 2001, 29, 1370. Link zur Quelle

  11. Guérin, C.: N. Engl. J. Med. 2020, 382, 1162. Link zur Quelle