Nach Angaben der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) wird etwa ein Fünftel der Gesundheitsausgaben in den Mitgliedsländern für Therapien aufgewendet, die keinen oder nur einen marginalen Beitrag zur Besserung von Kranken leisten (1). Viele dieser Ausgaben entstehen in der Intensivmedizin. In einem aktuellen Positionspapier der Sektion Ethik (2) der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) wird vor dem Hintergrund der extremen Belastungen durch die SARS-CoV-2-Pandemie die Überversorgung in der Intensivmedizin analysiert (3, 4). Das Positionspapier liest sich in Teilen wie eine kritische Abrechnung mit dem deutschen Fallpauschalen-System.
Eine intensivmedizinische Überversorgung liegt dann vor, wenn die durchgeführten Maßnahmen zu keiner für den Patienten bedeutsamen Verbesserung der (Über-) Lebensdauer oder Lebensqualität führen, d.h. unnötig, unwirksam oder unerwünscht sind (vgl. 5). Neben einer Verlängerung des Leidens der Kranken und ihrer Angehörigen schadet die Überversorgung auch dem Teamgeist einer Intensivstation, führt zu psychischen Erkrankungen beim Klinikpersonal, zur „Personalflucht“ und zu einer weiteren Verknappung der Ressourcen mit potenzieller Unterversorgung anderer Patienten (6).
Eine intensivmedizinische Überversorgung einzuschränken, muss in der individuellen Situation eine gemeinsame Entscheidung aller an der Therapie Beteiligten sein unter Einschluss des betroffenen Patienten und seiner Angehörigen auf der Grundlage valider Informationen und Einschätzungen. Hierzu muss die Prognose Schwerkranker anhand von Prognose-Scores und die Sinnhaftigkeit von Behandlungsmaßnahmen regelmäßig im Krankheitsverlauf evaluiert werden (7). Die individuellen Therapieziele müssen – sofern möglich – gemeinsam mit dem Patienten, seinen Betreuern und Angehörigen realistisch definiert werden und bei unerwarteten Entwicklungen im Krankheitsverlauf bedarfsweise angepasst werden. Dabei soll das Festlegen von Tages-Therapiezielen helfen, den individuell erarbeiteten Behandlungsplan etappenweise zu realisieren.
Eine lebensbedrohliche Situation kann, besonders bei der Aufnahme ins Krankenhaus, Patienten und Angehörige in eine so emotionale Ausnahmesituation versetzen, dass geradezu selbstverständlich der Anspruch auf eine intensivmedizinische Maximaltherapie eingefordert wird, die – bei fehlendem Wissen – aber oft auf einer Fehleinschätzung der reellen Möglichkeiten und der Risiken moderner Intensivmedizin beruht. Aus Zweifel und Angst werden für die eigene Behandlung sogar Defizite und Restriktionen befürchtet (8). Die Möglichkeit, dass Patienten bei der eingeforderten Maximaltherapie häufig nur mit dauerhaften schweren Behinderungen überleben könnten, werde im Gespräch mit dem Arzt oft gar nicht wahrgenommen (9). Auch gesetzliche Stellvertreter neigen in der Wahrnehmung ihrer Fürsorgepflicht eher zur Übertherapie, um dem Vorwurf einer „Untertherapie“ zu entgehen (10). Besteht Konsens über eine Limitierung der Therapie, kann diese durchaus eine maschinelle Beatmung beinhalten, sollte aber bei Übergang in eine aussichtslose Verschlechterung der Erkrankung abgebrochen werden. Eine solche Begrenzung der Therapie sollte dem Patienten trotzdem das aufrichtige ärztliche Bemühen um eine Rekonvaleszenz vermitteln. Außerdem sollte tiefes Vertrauen erzeugt werden, dass im Falle einer Änderung des Therapieziels eine palliativmedizinische Behandlung Leiden und Ängste sicher zu nehmen vermag und dass keiner der Beteiligten bei der Entscheidungsfindung oder im Sterbeprozess allein gelassen wird.
Die Entscheidung, eine Therapie auszuweiten oder zu begrenzen, kann im Einzelfall durch interdisziplinäre Einschätzungen erleichtert werden, wobei auch Palliativmediziner eingeschlossen werden sollten. Bei diesen Gesprächen kann psychologische und seelsorgerische Unterstützung sehr hilfreich sein, möglichst mit Personen aus dem Sprach- oder Kulturkreis der Betroffenen. In jedem Fall müssen die Therapieentscheidungen für alle Beteiligten transparent sein, und sie sollten unbedingt dokumentiert werden.
Mit dem Akronym „TRIKK“ wird in dem Positionspapier ein einfaches Instrument vorgestellt, das dem Personal auf Intensivstationen helfen soll, die bestehende Therapie und die weitere Planung kritisch zu überprüfen und eine Überversorgung zu erkennen (s. Abb. 1). Ist diese erkennbar, muss mit den Patienten bzw. ihren gesetzlichen Betreuern und Familien über die Option einer Einschränkung gesprochen werden. Nach dem Patientenrechtegesetz § 1901a BGB ist es eine ärztliche Aufgabe, die Behandlungsindikation mit dem Patientenwillen zu einer Behandlungsentscheidung zusammenzuführen, ihre Gültigkeit wiederholt zu reevaluieren (11) und strukturiert mit Patienten und Angehörigen zu besprechen.
Personal- und der damit einhergehende Zeitmangel, die Dynamik einer Erkrankung wie etwa COVID-19, eine fehlende Kommunikations- und Einwilligungsfähigkeit von Patienten oder Unklarheiten bzgl. der (gesetzlichen) Stellvertreterverfügung begünstigen eine intensivmedizinische Überversorgung (12). Weitere Gründe sind ein falsch verstandenes ärztliches Ethos („Leben retten um jeden Preis“; 13), individuelle Versagensängste, persönliches Profilierungsstreben oder Allmachtsgefühle (14). Derartige Motive lassen sich nur im Team oder durch externe Expertise kontrollieren. Die Sorge vieler Ärzte vor haftungs- oder strafrechtlichen Konsequenzen – bspw. wegen eines Behandlungsfehlers oder unterlassener Hilfeleistung möglicherweise angezeigt zu werden – ist vermutlich ein weiterer Motor für Überdiagnostik und Übertherapie (15, vgl. 24).
Für die intensivmedizinische Überversorgung sind nach Ansicht der Autoren die bestehenden falschen finanziellen Anreize im Abrechnungssystem mitverantwortlich (16). Dem Thema Optimierung der Erlöse auf Intensivstationen wird in dem Positionspapier entsprechend viel Platz eingeräumt. Mangelnde Investitionsmittel des Bundes für die Krankenhäuser und das Vergütungssystem per se erzwingen ein zu sehr betriebswirtschaftlich ausgerichtetes Verhalten der Kliniken und der verantwortlichen Führungspersonen. Es besteht ein starker Anreiz, lukrative ärztliche Leistungen auszuweiten, auch, um andere Bereiche damit zu subventionieren. Intensivmedizin ist für die Betreiber von Kliniken lukrativ. Im aktuellen Fallpauschalen-(DRG)-System werden operative und interventionelle Leistungen (z.B. als „intensivmedizinische Komplexbehandlung“, ICD-Code: OPS 8.98f.) grundsätzlich besser vergütet als konservative Behandlungsmaßnahmen oder ein ausführliches Gespräch von Ärzten mit Patienten oder Angehörigen. Entsprechend wird die Intensivtherapie in den letzten Jahren mit 3% jährlichem Zuwachs deutlich stärker in Anspruch genommen als die Krankenhausbehandlung insgesamt (+0,8%; 17). Auch die Einsparungen beim Personal sind typische Folgen dieser Politik. Die fatalen Auswirkungen für die Kranken- und Intensivpflege werden derzeit in der Pandemie für alle sichtbar (18, 19).
Angesichts der Dauerbelastung auf den Intensivstationen hatten die beiden Fachgesellschaften schon vor einem Jahr „Zusätzliche Entscheidungsgrundlagen und Priorisierungskriterien für die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ vorgeschlagen. Diese orientieren sich in erster Linie am Kriterium der „klinischen Erfolgsaussicht“ (20).
In dem aktuellen Positionspapier wird u.a. ein altersadaptiertes Gesundheitskonzept vorgeschlagen mit angepassten Krankheitsdefinitionen und Korrektur relevanter Grenzwerte. Zu enge Grenzbereiche können bei alten Patienten die Inzidenz von Erkrankungen und Behandlungsnotwendigkeiten überschätzen. Dadurch werden nicht nur Ressourcen ungerechtfertigt verbraucht, sondern möglicherweise die Betroffenen auch geschädigt (21, 22). Ethikkomitees und Palliativteams sollten diese verantwortungsvolle Aufgabe zusätzlich unterstützen. Auf der Ebene der Krankenhausleitung werden Strategien gefordert, um Überversorgung systematisch aufzudecken, z.B. durch Implementierung von Qualitätskontrollen und „Checklisten“.
Die Autoren fordern von der Gesundheitspolitik eine Reformierung des auf Fallpauschalen beruhenden Vergütungssystems. Der ökonomische Druck müsse aus der Beatmungstherapie und anderen invasiven intensivmedizinischen Maßnahmen herausgenommen werden (23). Nicht der zu erwartende Erlös sollte für oder gegen den Einsatz einer bestimmten Therapiemaßnahme entscheidend sein, sondern allein der Wille und die Prognose des Patienten.
Allgemeines Ziel müsse sein, eine solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten, die für alle gleichermaßen zugänglich ist und ein Arbeiten in der Intensivmedizin auch auf Dauer möglich macht.
Fazit: In der Intensivmedizin kann aus mehreren Ursachen eine Überversorgung entstehen, die sich auf die Patienten, ihre Angehörigen, andere Patienten, das behandelnde Team, das Krankenhaus und das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem negativ auswirkt. In einem Positionspapier zweier deutscher intensivmedizinischer Fachgesellschaften werden Vorschläge unterbreitet, wie der Überversorgung in der Intensivmedizin künftig begegnet werden soll. Dabei steht im Mittelpunkt ein Prozess, der die gemeinschaftliche Definition von Therapiezielen, die interdisziplinäre Kommunikation sowie die regelmäßige Evaluierung des therapeutisch Erreichten und der Prognose einschließt. Dadurch kann Überversorgung erkannt und benannt werden. Von der Politik wird dringend gefordert, die medizinische Versorgung von den bestehenden Anreizen zur Optimierung finanzieller Vergütungen abzukoppeln.
Literatur
- OECD Publishing, Paris 2017. Link zur Quelle
- Michalsen, A., et al.: Med. Klin. Intensivmed. Notfmed. 1. März 2021. Link zur Quelle
- Kopp, R., et al.: Anästh. Intensivmed. 2020, 61, 466. Link zur Quelle
- Riessen, R., et al.: Internist 2017, 58, 550. Link zur Quelle
- VV_Studie_Ueberversorgung_IGES.pdf (bertelsmann-stiftung.de)
- Moss, M., et al.: Am. J. Crit. Care 2016, 25, 368. Link zur Quelle
- Lefering, R.: Scores in der Intensivmedizin. In: Marx, G., Muhl, E., Zacharowski, K. (Hrsg.). Die Intensivmedizin. Springer Reference Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg, 2015. Link zur Quelle
- Hambrock, U., 2019: Link zur Quelle Publikation (bertelsmann-stiftung.de)
- Sadoughi, F., et al.: Comput. Methods Programs Biomed 2018, 161, 209. Link zur Quelle
- Neitzke, G.: Anasthesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 2019, 54, 485. Link zur Quelle
- Elshaug, A.G., et al.: Lancet 2017, 390, 191. Link zur Quelle
- Neitzke, G.: Anasthesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 2019, 54, 474. Link zur Quelle
- Kohn, R., et al.: Intensive Care Med. 2011, 37, 1210. Link zur Quelle
- Bion, J., et al.: Intensive Care Med. 2018, 44, 1657. Link zur Quelle
- Duttge, G., et al.: In: Steinfath, H., Wiesemann, C. (Hrsg.): Autonomie und Vertrauen – Schlüsselbegriffe der modernen Medizin. Springer, Berlin, 2016, S. 239.
- Deutscher Ethikrat, 2014: Link zur Quelle . Zugriff: 23.10.2020.
- Fleischmann-Struzek, C., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2019, 116, 653. Link zur Quelle
- Moss, M., et al.: Am. J. Crit. Care 2016, 25, 368. Link zur Quelle
- Van den Bulcke, B., et al. (DISPROPRICUS = Disproportionate care in the ICU’s): Intensive Care Med. 2020, 46, 46. Link zur Quelle
- https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/ publikationen/covid-19-dokumente/200417- divi-covid-19-ethik-empfehlung-version-2.pdf Link zur Quelle
- Hofmann, B.: Eur. J. Epidemiol. 2019, 34, 613. Link zur Quelle
- Hofmann, B.: J. Eval. Clin. Pract. 2018, 24, 978. Link zur Quelle
- Riessen, R., et al.: Med. Klin. Intensivmed. Notfmed. 2020, 115, 59. Link zur Quelle
- AMB 2017, 51, 79. Link zur Quelle