Artikel herunterladen

Rekombinantes Erythropoietin verkürzt Progreß-freies und Gesamtüberleben bei Patienten mit Kopf- bzw. Halstumoren

Auf Pathogenese und Behandlungsmöglichkeiten der Tumor-assoziierten Anämie sind wir in den vergangenen Jahren wiederholt ausführlich eingegangen (1-3). Der Einsatz der derzeit zur Behandlung der Tumoranämie bei Patienten mit soliden Tumoren, malignen Lymphomen oder Plasmozytom unter Chemotherapie zugelassenen rekombinanten Erythropoietine (rhEPO), Epoetin alfa (Erypo®), Epoetin beta (NeoRecormon®) und Darbepoetin alfa (Aranesp®), ist z.T. aggressiv beworben worden. Dies hat dazu geführt, daß rhEPO häufig unkritisch bei Tumorpatienten eingesetzt wird und zu den 10 kostenintensivsten, ambulant verordneten Arzneimitteln in Berlin zählt (4). Nach aktuellen Schätzungen erhält in den USA jeder dritte Tumorpatient rhEPO; daraus resultieren jährliche Kosten für das Gesundheitssystem in Höhe von ca. 2,5 Mrd. U.S. Dollar (5). Randomisierte klinische Studien und Metaanalysen haben gezeigt, daß rhEPO bei Tumorpatienten mit Anämie zu einem Anstieg des Hämoglobin(Hb)-Werts führen und den Bedarf an Erythrozyten-Konzentraten reduzieren kann (6). Ein günstiger Einfluß von rhEPO auf die Lebensqualität (7) und das Überleben (8) der Tumorpatienten ist jedoch umstritten bzw. nicht überzeugend belegt. Bisher vorliegende pharmakoökonomische Analysen zur Kosteneffizienz einer Therapie mit rhEPO bei Tumorpatienten ergaben, daß rhEPO einen eher geringen klinischen Nutzen sowie eine geringe Verbesserung der Lebensqualität erzeugt, hierfür jedoch sehr hohe Kosten aufzubringen sind (9).

Vor diesem Hintergrund sind die überraschenden Ergebnisse einer kürzlich publizierten Studie zum Stellenwert von Epoetin beta für die lokale Tumorkontrolle und das Überleben von Patienten mit Kopf- und Halstumoren auf großes Interesse gestoßen (10). Insgesamt wurden in diese multizentrische, doppeltblinde, randomisierte und plazebokontrollierte Studie 351 Patienten mit Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle, des Oro- und Hypopharynx oder des Larynx eingeschlossen. Die Einschlußkriterien umfaßten einen Hb-Wert < 12,0 g/dl (Frauen) bzw. < 13,0 g/dl (Männer) und einen Karnofsky-Index ≥ 60. Nach Randomisierung erhielten die Patienten Plazebo oder Epoetin beta (300 IU/kg), verteilt als dreimal wöchentliche Gabe s.c. 10-14 Tage vor und während der gesamten Strahlentherapie. Bei einem Hb-Anstieg auf Werte ≥ 14,0 g/dl (Frauen) bzw. ≥ 15,0 g/dl (Männer) wurde die Epoetin-Gabe unterbrochen. Für die Randomisierung und Auswertung der Ergebnisse wurden die Patienten in 3 Gruppen stratifiziert: 1. postoperative Bestrahlung nach vollständiger (R0) Resektion des Tumors; 2. postoperative Bestrahlung des unvollständig resezierten Tumors (R1 oder R2); 3. primäre Bestrahlung. Primärer Endpunkt der Studie war das lokoregionäre Progreß-freie Überleben, das als Zeit bis zum lokoregionären Tumorprogreß oder Tod definiert wurde. Weiterhin ausgewertet wurden der lokoregionäre Tumorprogreß, das Gesamtüberleben, Veränderungen der hämatologischen Parameter und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Die Analysen wurden nach dem ”Intention-to-treat”-Prinzip durchgeführt. Der Sponsor der Studie (Hoffmann La Roche) war bei Studiendesign, Datenerfassung, Durchführung der Studie, statistischen Analysen und Interpretation sowie Publikation der Ergebnisse beteiligt.

Ergebnisse: Erwartungsgemäß kam es unter Epoetin beta zu einem deutlichen Anstieg der mittleren Hb-Werte, die nach 4 Wochen Behandlung bei 14,8 g/dl (Plazebo: 12,4 g/dl) und nach 9 Wochen bei 15,4 g/dl (Plazebo: 12,9 g/dl) lagen. Das lokoregionäre Progreß-freie Überleben war jedoch für die mit Epoetin beta behandelten Patienten signifikant schlechter als für die Patienten in der Plazebo-Gruppe (Relatives Risiko: 1,62; 95%-Konfidenzintervall: 1,22-2,14; p = 0,0008). Das mediane lokoregionäre Progreß-freie Überleben betrug für die Plazebo-Gruppe 745 Tage und die Epoetin-beta-Gruppe 406 Tage (p = 0,04). Insbesondere Patienten mit postoperativer Bestrahlung eines unvollständig resezierten Tumors oder primärer Strahlenbehandlung zeigten unter Epoetin beta signifikant häufiger einen lokoregionären Progreß oder Verkürzung des Überlebens. Patienten mit Tumoren des Hypopharynx hatten unter Epoetin beta einen besonders ungünstigen Krankheitsverlauf. Vaskuläre Erkrankungen (z.B. arterieller Hochdruck, Hämorrhagien, venöse Thrombosen, Lungenembolien, zerebrovaskuläre Erkrankungen) traten unter Epoetin beta häufiger auf als unter Plazebo (11% vs. 5%). Ansonsten wurden keine signifikanten Unterschiede in den UAW beobachtet.

Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen, daß sich Hypothesen auf Grund tierexperimenteller Untersuchungen (Hypoxie im Tumor ist ein negativer prognostischer Faktor, Anhebung des Hb-Werts führt zu einer verbesserten Strahlenempfindlichkeit des Tumors und verbessert die Prognose) in klinischen Studien häufig nicht bestätigen lassen.

In diesem Zusammenhang sind auch die bisher nicht vollständig publizierten Ergebnisse einer Studie mit Epoetin alfa bei Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom erwähnenswert. In dieser von Johnson & Johnson geplanten und finanziell unterstützten, randomisierten, multizentrischen, doppeltblinden und plazebokontrollierten Studie wurden 939 Patientinnen eingeschlossen und die prophylaktische Wirksamkeit von Epoetin alfa zusätzlich zur primären Chemotherapie untersucht (11). Nachdem Analysen einen signifikanten Unterschied im Überleben nach 12 Monaten zeigten (Plazebo: 76% vs. Epoetin alfa: 70%; p = 0,0117), wurde die Studie auf Empfehlung des unabhängigen ”Data Monitoring Committee” abgebrochen. Besorgniserregend ist insbesondere der Anstieg der Letalität in den ersten 4 Monaten (41 Tote in der Epoetin-alfa- vs. 16 Tote in der Plazebo-Gruppe), der im Wesentlichen auf einen Krankheitsprogreß, aber auch auf eine Zunahme an thrombotischen und vaskulären Ereignissen unter Epoetin alfa zurückzuführen ist. Als mögliche Gründe für diese ungünstigen Ergebnisse unter rhEPO werden von den Autoren spezifische Wirkungen von rhEPO (z.B. antiapoptotische Mechanismen, Einfluß von rhEPO auf Wachstum und Angiogenese von Tumoren; 10) sowie Fehler im Design und in der Durchführung der Studie diskutiert (11). Deutliche Hinweise für ein signifikant häufigeres Auftreten von symptomatischen venösen Thrombosen fanden sich auch in einer kürzlich publizierten retrospektiven Fall-Kontroll-Studie bei Patientinnen mit Zervix- oder Vulvakarzinom, die parallel zur Bestrahlung und Chemotherapie mit rhEPO behandelt wurden (12).

Fazit: Randomisierte klinische Studien zum Einsatz von rhEPO parallel zur Bestrahlung bei Patienten mit Kopf- und Halstumoren (Therapieziel: Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle und des Überlebens) bzw. parallel zur Chemotherapie bei Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom (Therapieziel: Verbesserung des Überlebens durch Vermeiden einer Anämie) ergaben eine Verkürzung des Progreß-freien bzw. Gesamtüberlebens unter rhEPO gegenüber Plazebo. Der von der pharmazeutischen Industrie als Vermarktungsstrategie für rhEPO häufig eingesetzte Slogan: ”Gewinn von Lebenszeit und Lebensqualität” ist somit vermutlich falsch. Ein unkritischer Einsatz von rhEPO gefährdet Tumorpatienten. Außerhalb kontrollierter klinischer Studien sollte deshalb nach unserer Einschätzung rhEPO bei den genannten Tumorentitäten nicht mehr eingesetzt werden. Für die Gabe von rhEPO bei hämatologischen Neoplasien unter Chemotherapie gelten weiterhin die eher restriktiven Empfehlungen der American Society of Hematology bzw. der American Society of Clinical Oncology (13). Grundsätzlich muß bei Tumorpatienten, die mit rhEPO behandelt werden, auf eine erhöhte Inzidenz vaskulärer Komplikationen, insbesondere venöser Thrombosen, geachtet werden.

Literatur

  1. AMB 2000, 34, 77.
  2. AMB 2001, 35, 55.
  3. AMB 2002, 36, 25.
  4. AMB 2001, 35, 95.
  5. Rizzo, J.D., et al.: Hematology 2001. American Society of Hematology Education Program Book. S. 10-14.
  6. AMB 2002, 36, 12.
  7. Bottomley, A., et al.: Lancet Oncol. 2002, 3, 145.
  8. Littlewood, T.J., et al.: J. Clin. Oncol. 2001, 19, 2865.
  9. Neymark, N: ESO Scientific Updates. Hrsg.: Bokemeyer, C. und Ludwig, H. 2001, S. 189.
  10. Henke, M., et al.: Lancet 2003, 362, 1255.
  11. Leyland-Jones, B., et al.: Lancet Oncol. 2003, 4, 459.
  12. Wun, T., et al.: Cancer 2003, 98, 1514.
  13. Rizzo, J.D., et al.: Blood 2002, 100, 2303.