Artikel herunterladen

Erenumab: erster Antikörper zur Prophylaxe der Migräne zugelassen

Zusammenfassung: Der monoklonale Antikörper Erenumab ist das erste zugelassene Arzneimittel einer neuen Wirkstoffklasse, die sich spezifisch gegen einen wichtigen Migräne-auslösenden Botenstoff (CGRP = Calcitonin Gene-Related-Peptide) richtet. Im Vergleich zu Plazebo reduziert Erenumab bei episodischer Migräne die Migränetage um 1,4 bis 1,9 pro Monat und bei chronischer Migräne um 2,5 Tage. Die Wirksamkeit von Erenumab scheint – im indirekten Vergleich – im Bereich der bisher verfügbaren Wirkstoffe zur Migräneprophylaxe zu liegen. Dies ist enttäuschend angesichts der Tatsache, dass Erenumab spezifisch in die pathophysiologischen Vorgänge der Migräne eingreift. Hinsichtlich der Verträglichkeit könnte Erenumab gegenüber den bisher eingesetzten Wirkstoffen Vorteile haben. Allerdings sind die Risiken einer langfristigen Blockade von CGRP, insbesondere hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse, noch nicht zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund bewerten wir die von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) und Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erteilte sehr weitreichende (≥ 4 Migränetage pro Monat) Zulassung von Erenumab sehr kritisch.

Laut der „Global Burden of Disease Study“ (1) ist die Migräne noch vor dem Schlaganfall die führende neurologische Ursache für verlorene beschwerdefreie Lebensjahre (gemessen als DALYs = Disability-Adjusted-Life-Years) und inzwischen die häufigste Ursache für eine Behinderung bei unter 50-Jährigen (2). Ziel einer Migräneprophylaxe ist es, die Häufigkeit und Schwere der Attacken um mindestens 50% zu reduzieren (3). Hierzu stehen verschiedene nicht medikamentöse und medikamentöse Optionen zur Verfügung. Zur nicht medikamentösen Anfallsprophylaxe zählen eine ausführliche Aufklärung und Beratung, regelmäßiger aerober Ausdauersport, diverse Entspannungs- und Biofeedback-Verfahren, eine psychologische Unterstützung sowie die Vermeidung möglicher Triggerfaktoren (vgl. 14). Bei mindestens jedem vierten Patienten reicht dies nicht aus, und es besteht eine Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe (4).

Wir haben 2017 bereits ausführlich über die Pharmakotherapie der Migräne bei Erwachsenen berichtet (vgl. 5). Bislang stehen jedoch nur Wirkstoffe zur Verfügung, die ursprünglich für andere Indikationen entwickelt wurden und aufgrund ihrer begrenzten Wirksamkeit und Nebenwirkungen eine Adhärenzrate nach 6 Monaten von < 30% aufweisen (6). Zu den bislang zugelassenen Wirkstoffen zählen die Betablocker Metoprolol und Propranolol (Anfallsreduktion um ca. 44%; vgl. 3), der Kalziumkanalblocker Flunarizin (vergleichbare Wirkung wie Betablocker) sowie das Antikonvulsivum Topiramat. Keiner dieser Wirkstoffe hat hinsichtlich seiner Wirksamkeit einen Vorteil. Daher richtet sich die Auswahl nach dem individuellen Ansprechen, den Komorbiditäten und den potenziellen Nebenwirkungen (3).

Im Juli 2018 hat die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA nach beschleunigter Beurteilung nun erstmals einen monoklonalen Antikörper (Erenumab, Aimovig®) für die Prophylaxe der Migräne bei Erwachsenen mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat zugelassen (7, 15, 16). Zusätzlich ist die Empfehlung ausgesprochen worden, dass diese Therapie von Ärzten begonnen werden sollte, die erfahren sind in der Diagnostik und Therapie der Migräne. Erenumab ist ein humaner (IgG2) monoklonaler Antikörper, der reversibel und kompetitiv an den Rezeptor von CGRP (Calcitonin Gene-Related-Peptide) bindet. Es handelt sich um ein völlig neuartiges Therapieprinzip. CGRP ist ein Neuropeptid, dessen zentrale Rolle bei den auslösenden pathophysiologischen Vorgängen der Migräne gut belegt ist (8). Zudem wirkt CGRP als starker biologischer Vasodilatator in Hirn, Herz und Niere. CGRP steht schon seit Jahren im Fokus der Forschung zur Migränetherapie. Zunächst wurden kleinmolekulare CGRP-Rezeptorantagonisten entwickelt, die sogenannten „Gepante“ (z.B. Telcagepant und Olcegepant). In Studien zur akuten Behandlung der Migräne zeigten die „Gepante“ eine Wirksamkeit, die etwa denen von Triptanen entspricht (8). Wegen Lebertoxizität wurde die Weiterentwicklung dieser Wirkstoffgruppe jedoch vorübergehend aufgegeben. Daraufhin konzentrierte sich die Forschung auf die Entwicklung von Antikörpern gegen das CGRP bzw. den CGRP-Rezeptor.

Der Wirkstoff Erenumab wird als subkutane Selbstinjektion monatlich appliziert und steht derzeit nur in einer Dosis von 70 mg zur Verfügung. Der Preis für Aimovig®, das in Deutschland im Herbst auf den Markt kommt, ist noch nicht bekannt. In den USA liegen die Kosten für Aimovig®, das dort von Novartis und Amgen gemeinsam vertrieben wird, für eine monatliche Injektion von 70 oder 140 mg bei 575 US-$ und die Jahrestherapiekosten bei 6.900 US-$ (9).

Episodische Migräne (EM): In der von den pharmazeutischen Unternehmern (pU) Amgen und Novartis initiierten multizentrischen, randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Phase-III-Studie (STRIVE) wurden Patient(inn)en (85% Frauen!) mit EM untersucht (10). Eingeschlossen wurden Erwachsene bis 65 Jahre mit 4 bis 14 Migränetagen pro Monat. Wegen der unklaren Wirkungen auf den Vasotonus waren eine Vorgeschichte mit Myokardinfarkt, Schlaganfall, instabiler Angina pectoris und eine revaskularisierende Therapie in den vorangegangenen 12 Monaten Ausschlusskriterien. Zunächst wurden mittels eines elektronischen Tagebuchs über vier Wochen die Ausgangsbefunde dokumentiert. Dazu gehörten Informationen über die Qualität der Kopfschmerzen, über Migräne-assoziierte Symptome, den Analgetikagebrauch und eine Erfassung der Aktivitäten des täglichen Lebens und der körperlichen Beeinträchtigungen mittels eines speziell für Migräne entwickelten Fragebogens (MPFID). Die Patient(inn)en (n = 955) wurden dann im Verhältnis 1:1:1 den drei Studienarmen (70 mg oder 140 mg Erenumab oder Plazebo, jeweils alle 4 Wochen s.c.) zugeteilt. Nach einer Behandlungsphase von 24 Wochen folgte eine weitere Phase über 28 Wochen, in der alle Patient(inn)en Erenumab erhielten (randomisiert 70 mg oder 140 mg). Die Ergebnisse dieser letzten Studienphase sind bisher nicht publiziert.

Ergebnisse: Die Zahl der monatlichen Tage mit Migräne betrug vor Beginn der Therapie durchschnittlich 8,3 Tage und sank im 4.-6. Monat der Behandlung mit 70 mg Erenumab um 3,2 Tage, unter 140 mg Erenumab um 3,7 Tage und unter Plazebo um 1,8 Tage (primärer Endpunkt; p < 0,001 für beide Dosierungen). Auch hinsichtlich aller sekundären Endpunkte war Erenumab in beiden Dosierungen dem Plazebo überlegen. Eine Reduktion der Migränetage um mindestens 50% fand sich in der Plazebogruppe bei 26,6% der Patienten und unter 70 mg Erenumab bei 43,3% (Odds Ratio = OR: 2,13; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,52-2,98) sowie unter 140 mg Erenumab bei 50,0% (OR: 2,81; CI: 2,01-3,94). Die Tage, an denen eine akute, Migräne-spezifische Medikation (v.a. Triptane) eingenommen wurde, sanken im Vergleich zu Plazebo bei 70 mg Erenumab um 0,9 Tage und bei 140 mg Erenumab um 1,4 Tage. Die Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens und der körperlichen Funktionen durch Migräne verbesserten sich unter Erenumab im Vergleich zu Plazebo ebenfalls signifikant, die Differenz war aber gering (bis 2,5 Punkte auf einer Scala von 100).

Eine zweite, methodisch sehr ähnliche, randomisierte Phase-III-Studie mit Erenumab bei EM (ARISE-Studie; 11) schloss 577 Patienten ein, die mit 70 mg Erenumab oder Plazebo behandelt wurden. Mit dem Antikörper kam es in der 3-monatigen Nachbeobachtung bei 39,7% zu einer ≥ 50%igen Reduktion der Migräneattacken und mit Plazebo bei 29,5% (OR: 1,59; CI: 1,12-2,27; p = 0,010).

Chronische Migräne (CM): Treten an mindestens 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen auf, die an mindestens 8 Tagen typisch für eine Migräne sind, dann liegt eine CM vor (3). Die CM entwickelt sich in der Regel aus der EM. Ein wichtiger Risikofaktor hierfür ist ein hoher Schmerzmittelgebrauch. Bei der CM hat die medikamentöse Prophylaxe einen sehr hohen Stellenwert, auch um den Analgetikagebrauch zu reduzieren. Bisher sind lediglich Topiramat und Onabotulinumtoxin A für diese Indikation zugelassen (5).

Der Zulassung von Erenumab für die CM liegt eine multizentrische, randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Phase-II-Studie mit 667 Patient(inn)en (85% Frauen) zugrunde (12). Diese wurden im Verhältnis 3:2:2 den Studienarmen Plazebo, Erenumab 70 mg und 140 mg zugeteilt. Wie in der STRIVE-Studie waren Patient(inn)en mit kardiovaskulären Vorerkrankungen ausgeschlossen. Das mittlere Alter betrug 42 Jahre, etwa zwei Drittel hatten zuvor bereits eine medikamentöse Migräneprophylaxe erfolglos eingenommen, und bei 41% bestand ein „Medikamentenübergebrauch“.

Nach einer Beobachtungsphase von 4 Wochen, die der Erhebung der Ausgangsbefunde diente, erfolgte die Behandlungsphase über 12 Wochen mit monatlichen Injektionen von Erenumab bzw. Plazebo. Die Ergebnisse basieren auf einem Vergleich der letzten 4 Wochen der Behandlungsphase mit den Befunden vor Therapiebeginn.

Ergebnisse: Die Zahl der Migränetage betrug initial 18 pro Monat. Sie reduzierte sich in der Plazebo-Gruppe um 4,2 Tage und in den beiden Erenumab-Gruppen jeweils um 6,6 Tage (Unterschied: -2,5 Tage = primärer Endpunkt; CI: -3,5 bis -1,4; p < 0,0001). Eine Reduktion der Tage mit Migräne um mindestens 50% wurde bei 40% bzw. 41% erzielt (70 mg bzw. 140 mg Erenumab) versus 23% unter Plazebo. Dies entspricht einer NNT (Number needed to treat) von 6 (11). Im Vergleich zu Plazebo sank auch die Zahl der Tage, an denen die Patienten zur Akuttherapie Triptane einnahmen: mit 70 mg Erenumab um 1,9 und mit 140 mg um 2,6 Tage (p < 0,001). Die kumulative Zahl der Stunden mit Kopfschmerzen (auch Nicht-Migränekopfschmerzen) unterschied sich signifikant nur zwischen Plazebo und 140 mg Erenumab, jedoch nicht mit der niedrigeren Dosierung (70 mg).

Sicherheitsanalyse: Der Anteil der Patient(inn)en, die wegen Nebenwirkungen die Zulassungsstudien abbrachen, war bei beiden getesteten Erenumab-Dosierungen gering (bis 2,2%) und unterschied sich nicht von den Plazebo-Gruppen (10, 12). Im Vergleich mit Plazebo traten unter Erenumab etwas häufiger Schmerzen und Reizungen an der Injektionsstelle, Muskelkrämpfe, Obstipation und Pruritus auf. Die Inzidenz war jedoch gering (deutlich < 5%) und scheint dosisabhängig zu sein (7). Da CGRP ein sehr potenter Vasodilatator ist, besteht die Gefahr, dass die Blockade seines Rezeptors das bei Migräne ohnehin erhöhte Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen (14) erhöhen könnte. Bisher ergaben die Studien mit ca. 2.500 Patient(inn)en (davon > 1.300 mit Erenumab über mindestens 12 Monate) jedoch keine eindeutigen Hinweise auf ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (7, 16-18), wobei allerdings daran erinnert sei, dass Personen > 65 Jahre und mit vaskulären Ereignissen in der Vorgeschichte aus Sicherheitsgründen von den Studien ausgeschlossen waren. Ein Trend zu erhöhten diastolischen Blutdruckwerten und zwei unerwartete kardiale Todesfälle unter Erenumab, die auf Vorerkrankungen zurückgeführt wurden, sollten jedoch als Signal auf mögliche kardiovaskuläre Nebenwirkungen gewertet werden (13). Die EMA hat einen „risk management plan“ für Erenumab aufgestellt, in dem vor allem bei den noch aktiven und bei nachfolgenden Studien sowie in mehreren Registern das Augenmerk auf die potenziellen kardiovaskulären Risiken gelenkt wird (18).

Im Gegensatz zu den CGRP-Rezeptorantagonisten aus der „Gepanten“-Gruppe fanden sich bei Erenumab bisher keine Hinweise auf eine Hepatotoxizität. Die Bedeutung von Antikörpern gegen Erenumab, die bei bis zu 6,3% der Teilnehmer(innen) nachgewiesen wurden, ist noch unklar. Da Frauen im gebärfähigen Alter am meisten von Erenumab profitieren könnten, ist das teratogene Risiko bedeutsam. Bisher ist dies unbekannt (vgl. 18).

Ein weiterer humanisierter monoklonaler Antikörper (Fremanezumab; noch nicht zugelassen), der ebenfalls gegen das CGRP gerichtet ist, wurde in klinischen Studien hinsichtlich seiner präventiven Wirksamkeit bei Migräne gegen Plazebo geprüft. Bei EM reduzierten sich in einer internationalen, multizentrischen, randomisierten, doppelblinden Studie mit insgesamt 875 Patienten (19) nach dreimaliger Injektion von 225 mg (zu Beginn, Woche 4 und 8) die monatlichen Migränetage gering, aber signifikant unterschiedlich zu Plazebo, von anfänglich 8,9 auf 4,9 (Plazebo: von 9,1 auf 6,5; p = 0,001) nach einer Beobachtungszeit von 12 Wochen. Nach höherer Einmaldosis von Fremanezumab (einmal zu Beginn 675 mg) war die Reduktion der Migränetage ebenfalls signifikant unterschiedlich, verglichen mit Plazebo, aber nicht größer: von 9,2 auf 5,3 (Plazebo: von 9,1 auf 6,5).

Auch bei CM wurde die präventive Wirksamkeit von Fremanezumab in einer randomisierten, plazebokontrollierten Phase-III-Studie untersucht (20): In einer Gruppe mit der Dosierung 675 mg zu Beginn und jeweils 225 mg in Woche 4 und 8 reduzierten sich die monatlichen Migränetage nach 12 Wochen von anfänglich 12,8 um im Mittel 4,6 ± 0,3 Tage (Plazebo: 2,5 ± 0,3 Tage; p < 0,001). Die Wirksamkeit von Fremanezumab scheint also sehr ähnlich wie die von Erenumab zu sein. Hinsichtlich der Sicherheit bei Langzeitanwendung bestehen die gleichen Bedenken.

Literatur

  1. GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group: Lancet Neurol. 2017, 16, 877. Link zur Quelle
  2. Steiner, T.J., et al.: J. Headache Pain 2018, 19, 17. Link zur Quelle
  3. Diener, H.-C., et al.: S1 Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne (2018). Link zur Quelle (Zugriff am 2.9.2018).
  4. Lipton, R.B., et al. (AMPP = American Migraine Prevalence and Prevention study): Neurology 2007, 68, 343. Link zur Quelle
  5. AMB 2017, 51, 81. Link zur Quelle
  6. Hepp, Z., et al.: Cephalalgia 2015, 35, 478. Link zur Quelle
  7. EMA EPAR Erenumab Aimovig®: Link zur Quelle (Zugriff am 2.9.2018).
  8. Edvinsson, L., et al.: Nat. Rev. Neurol. 2018, 14, 338. Link zur Quelle
  9. https://www.novartis.com/news/… Link zur Quelle
  10. Gatsby, P.J., et al. (STRIVE = Study to evaluate the efficacy and safety of erenumab in migraine prevention): N. Engl. J. Med. 2017, 377, 2123. Link zur Quelle
  11. Dodick, D.W., et al. (ARISE = Study to evaluate the efficacy and safety of erenumab (AMG 334) compared to placebo in migraine prevention): Cephalalgia 2018, 38, 1026. Link zur Quelle
  12. Tepper, S., et al.: Lancet Neurol. 2017, 16, 425. Link zur Quelle
  13. Aimovig Prescribing Information: Link zur Quelle (Zugriff am 2.9.2018).
  14. Mahmoud, A.N., et al.: BMJ Open 2018, 8, e020498. Link zur Quelle
  15. http://www.schmerzklinik.de/service-fuer-patienten/ migraene-wissen/ausloeser/ Link zur Quelle
  16. http://www.ema.europa.eu/… Link zur Quelle
  17. http://www.ema.europa.eu/… Link zur Quelle
  18. EMA risk management plan: Link zur Quelle
  19. Dodick, D.W., et al.: JAMA 2018, 319, 1999. Link zur Quelle
  20. Silberstein, S.D., et al.: N. Engl. J. Med. 2017, 377, 2113. Link zur Quelle