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Zur Behandlung der überaktiven Blase bei Männern

Die „überaktive Blase“ (ÜAB) ist definiert über den Symptomenkomplex Pollakisurie (Definition: ≥ 8 Miktionen/24 h bei normaler Harnmenge), plötzlicher imperativer Harndrang (mit oder ohne Harnverlust) und nächtliches Aufwachen durch Harndrang mit Blasenentleerung (Nykturie; 1). Angeblich leidet jede/r Zehnte > 50 Jahre unter einer ÜAB, mit zunehmender Prävalenz in höheren Jahren. Frauen und Männer sind etwa gleich häufig betroffen. Die Ursache der ÜAB bleibt oft unklar. Es werden u.a. eine unzureichende zentralnervöse Hemmung der Harnblase und strukturelle Veränderungen der Blasenwand mit Hyperaktivität der Dehnungsrezeptoren diskutiert. Die Diagnose wird mit Hilfe eines Miktionstagebuchs gestellt. Darin werden Trinkmenge, Miktionsfrequenz und Miktionsvolumina erfasst. Außerdem gibt es Fragebögen zum Schweregrad des Harndrangs und der Lebensqualität. Die Diagnose erfordert auch, dass spezifische lokale, metabolische, neurologische oder endokrine Ursachen für die Symptome ausgeschlossen wurden.

Die Behandlung der ÜAB besteht aus nicht medikamentösen Maßnahmen (Miktionstraining, Beckenbodengymnastik, Elektrostimulation) und Arzneimitteln (systemisch und lokal; vgl. 2). Bei Männern wird ein Alpha-Blocker zur Minderung des Muskeltonus am Blasenausgang oder ein antimuskarinerg wirksames Anticholinergikum zur Unterdrückung der Detrusorkontraktionen empfohlen (1). Die meisten Patienten werden aber weder mit der einen noch mit der anderen Medikation komplett beschwerdefrei. Zudem können zumindest die Anticholinergika bedeutsame Nebenwirkungen hervorrufen, und der Nutzen gegenüber einer Behandlung mit Plazebo ist gering (vgl. 3). Daher haben wir schon vor 17 Jahren einen Vergleich zwischen medikamentöser Therapie mit einem konsequenten Blasentrainings-Programm gefordert. Die aktuell publizierte randomisierte kontrollierte Studie mit dem Akronym COBALT erfüllt nun diese Forderung (4).

Studiendesign: Die Studie wurde zwischen 2009 und 2015 an drei urologischen Zentren in Alabama, Georgia und Texas durchgeführt. Die Studienteilnehmer wurden mittels Telefoninterviews gescreent und dann in der Klinik untersucht (n = 432). Es erfolgten Untersuchungen wie Harnanalyse, Uroflowmetrie und Postmiktions-Sonografie. Ausgeschlossen wurden u.a. Männer mit hohem Restharn-Volumen, Harnwegsinfekten, Zustand nach Prostataoperation, schlecht kontrolliertem Diabetes mellitus oder neurologischen Systemerkrankungen.

Letztlich konnten 204 Männer in 3 Behandlungsarme randomisiert werden: 1. Verhaltenstherapie mit Beckenbodengymnastik und Erlernen von Strategien zum Herauszögern der Miktion und zur Kontrolle des Harndrangs; 2. Arzneimitteltherapie mit Tamsulosin 0,4 mg und Tolterodin 4 mg täglich; und 3. eine Kombination von Verhaltens- und Arzneimitteltherapie. Nach 6 Wochen (Phase 1) wurden alle Probanden für weitere 6 Wochen kombiniert behandelt (Phase 2). Die erforderlichen Kenntnisse und Techniken zur Verhaltenstherapie wurden in drei Trainingseinheiten gelehrt. Alle Probanden führten zum Erfassen der Symptome ein Miktionstagebuch und füllten diverse Fragebögen zur Symptomatik und Lebensqualität aus. Nebenwirkungen und Therapieadhärenz wurden mittels Telefoninterviews überprüft. Primärer Studienendpunkt war die Miktionsfrequenz, sekundäre waren u.a. Harndrang, Ausmaß der Inkontinenz und Nykturie sowie die Lebensqualität.

Ergebnisse: Das mittlere Alter der 204 Teilnehmer betrug 64 Jahre. Die Miktionsfrequenz betrug bei Studienbeginn im Mittel 11,8/24 h, die Zahl der Nykturien 2,1/Nacht und der mittlere Harndrang-Score 1,6 (Skala von 0-3: 0 = kein Harndrang; 1 = Harndrang kann leicht kontrolliert werden; 2 = Harndrang zwingt zur Unterbrechung von Aktivitäten; 3 = Aktivitäten müssen sofort unterbrochen werden). Es brachen 21 Teilnehmer die Studie vorzeitig ab. Die Ergebnisse nach der „Intention-to-treat“-Analyse sind in Tab. 1 wiedergegeben.

Die Anzahl der Miktionen ging am stärksten mit der Kombinationsbehandlung zurück (-30,5%), gefolgt von der Physio-/Verhaltenstherapie (-24,7%; Unterschied gegenüber Kombinationstherapie nicht signifikant). Der geringste Effekt fand sich bei alleiniger medikamentöser Therapie (-12,7%; Unterschied gegenüber Kombinationstherapie und Verhaltenstherapie signifikant). Ähnlich war das Ergebnis bei der Zahl der Nykturien. Die Inkontinenzepisoden nahmen in allen drei Gruppen > 50% ab, am stärksten wiederum in der Kombinationsgruppe (-78,8%). Keine Verbesserungen wurden dagegen beim Drang-Score erzielt – in keiner der drei Gruppen.

Eine Befragung der Patienten zum Therapieerfolg ergab, dass jeder Dritte mit alleiniger Arzneimitteltherapie keine Verbesserung spürte, mit Physio-/Verhaltenstherapie jeder Fünfte und mit der kombinierten Behandlung nur jeder Zehnte. Die Verträglichkeit der alleinigen Physio-/Verhaltenstherapie war am besten: Nur 14% gaben Probleme mit der Verträglichkeit an, vs. 68% mit Medikamenten allein und 66% in der Kombinationsgruppe. Trotzdem wünschten sich die meisten Patienten mit alleiniger Physio-/Verhaltenstherapie eine Therapieänderung (69%), gefolgt von alleiniger Arzneimitteltherapie (58%) und der kombinierten Behandlung (44%). Dieses Ergebnis könnte ein generelles Vertrauen in Arzneimittel widerspiegeln und/oder auch eine Unzufriedenheit mit der erforderlichen Eigenleistung.

Nachdem in Phase 2 alle Patienten über weitere 6 Wochen kombiniert behandelt worden waren, ergaben sich bei allen genannten Endpunkten keine statistischen Unterschiede.

Fazit: Bei überaktiver Blase verbessert Verhaltenstherapie mit Miktionskontrolle und Beckenbodengymnastik bei Männern die Symptome stärker als eine Behandlung mit dem Alpha-Blocker Tamsulosin und dem Anticholinergikum Tolterodin. Mit einer Kombination von Physio- und Verhaltenstherapie und Medikamenten können zusätzlich positive Effekte erzielt werden, insbesondere hinsichtlich der Zufriedenheit mit der Therapie. Eine stufenweise Behandlung, beginnend mit Physio- und Verhaltenstherapie und bedarfsweise Zusatz von Medikamenten mit akzeptabler Verträglichkeit (Alpha-Blocker), scheint vernünftig, eine primäre alleinige Arzneimitteltherapie dagegen nicht. Anticholinergika haben in dieser Indikation eine fragwürdige Nutzen-Risiko-Relation, besonders bei älteren Menschen, und sollten nur noch im Ausnahmefall gegeben werden (vgl. 5, 6).

Literatur

  1. SK2-Leitlinie Die überaktive Blase von 2010 (abgelaufen). Link zur Quelle
  2. AMB 2013, 47, 06. Link zur Quelle
  3. AMB 2003, 37, 44. Link zur Quelle
  4. Burgio, K.L., et al. (COBALT = Combined behavorial and drug treatment of overactive bladder in men) JAMA Intern Med. 2020, 180, 411 Link zur Quelle
  5. 2019 American Geriatrics Society Beers Criteria® Update Expert Panel: J. Am. Geriatr. Soc. 2019, Jan. 29. Link zur Quelle
  6. AMB 2019, 53, 31. Link zur Quelle

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