Die schwere, transfusionsabhängige β-Thalassämie und die Sichelzell-Krankheit sind weltweit die häufigsten monogenetischen Erkrankungen mit 60.000 bzw. 300.000 neuen Diagnosen pro Jahr (1). Der Gendefekt betrifft bei beiden Krankheiten die β-Kette des Hämoglobins. Bei der β-Thalassämie führen die Mutationen zu einer reduzierten oder fehlenden β-Globin-Synthese und einem α-Globinketten-Überschuss, die eine ineffektive Erythropoese und hypochrome Anämie verursachen. Bei der Sichelzellkrankheit entsteht das pathologische Sichelzell-Hämoglobin (HbS) durch eine Punktmutation, die zum Austausch von Glutaminsäure gegen Valin in der Position 6 der β-Kette führt. Die Polymerisation von sauerstoffarmem HbS verursacht Deformationen der Erythrozyten, Hämolyse, Anämie, schmerzhafte Gefäßverschlüsse und weitere Organschäden. Die Lebenserwartung ist verkürzt. Patienten mit β-Thalassämie werden symptomatisch mit Transfusionen und Eisenchelatbildnern behandelt, bei Sichelzellkrankheit mit Transfusionen, Schmerzmitteln und Hydroxyurea.
Eine kausale Therapie ist bei beiden Krankheiten nur durch eine Stammzelltransplantation möglich, meist durch einen HLA-identischen Spender aus der Familie. Passende Spender können jedoch nur für weniger als 20% der Patienten gefunden werden. Als erste Gentherapie zur Behandlung einer erblichen Hämoglobinopathie ist seit 2019 Betibeglogene autotemcel (Zynteglo®) für Patienten mit einer transfusionsabhängigen β-Thalassämie zugelassen, bei denen kein passender Spender für eine Stammzelltransplantation zur Verfügung steht. Die Gentherapie erfolgt ex vivo, indem den autologen hämatopoetischen Stammzellen gesunde Kopien des β-Globin-Gens mithilfe eines Lentivirus als Vektor übertragen werden (2).
Sichelzellkrankheit und β-Thalassämie führen typischerweise erst im Verlauf des ersten Lebensjahrs zu Symptomen, wenn nach der Geburt die Bildung des fetalen Hämoglobins abnimmt. Adultes Hämoglobin besteht überwiegend aus zwei α- und zwei β-Ketten (α2β2), wohingegen das fetale Hämoglobin (HbF) aus zwei α- und zwei γ-Ketten besteht (α2γ2). Der Transkriptionsfaktor BCL11A unterdrückt die Bildung von fetalem Hämoglobin. Erhöhte Spiegel von HbF sind mit einer geringeren Morbidität und Mortalität bei Patienten mit β-Thalassämie und Sichelzellkrankheit verbunden.
Kürzlich wurde im N. Engl. J. Med. über zwei Gentherapien berichtet, die den Transkriptionsfaktor BCL11A ausschalten sollen (1, 3). Dadurch soll eine anhaltend hohe HbF-Synthese zur Kompensation des β-Globinketten-Mangels erreicht werden. Bei beiden Verfahren werden den Patienten hämatopoetische Vorläuferzellen (CD34+-Zellen) entnommen. Die Zellen werden außerhalb des Körpers gentherapeutisch behandelt und den Patienten nach einer myeloablativen Chemotherapie mit Busulfan retransfundiert.
Methode 1: CRISPR/Cas9-Geneditierung. Die CRISPR/Cas-Methode ist eine molekularbiologische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern (Genome editing). CRISPR ist die Abkürzung des englischen Begriffs „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“ (deutsch: gruppierte kurze palindromische Wiederholungen mit regelmäßigen Abständen), der eine Nukleinsäuresequenz im Genom von Prokaryonten bezeichnet. Cas („CRISPR-associated-Protein“) bezeichnet eine CRISPR-assoziierte Endonuklease (z.B. Cas9, Cas12a). Bakterien nutzen CRISPR/Cas-Systeme als Abwehrmechanismus gegen Viren, um Abschnitte aus ihrer eigenen DNA, die sie als fremd erkennen, gezielt herauszuschneiden. Zur Behandlung der β-Thalassämie und Sichelzellkrankheit wurde durch die CRISPR/Cas9-Methode in hämatopoetischen Vorläuferzellen ein regulatorisches (Enhancer-) Segment des BCL11A-Gens so verändert, dass die BCL11A-Expression reduziert wird (1). Die so modifizierten autologen Vorläuferzellen werden als CTX001 bezeichnet. Die Methode wurde weltweit erstmals Ende 2019 bei einer Patientin mit einer β-Thalassämie am Universitätsklinikum Regensburg unter der Leitung von Selim Corbacioglu angewandt. Er berichtet zusammen mit US-amerikanischen Wissenschaftlern im N. Engl. J. Med. außerdem über die Behandlung bei einer Patientin mit einer Sichelzellkrankheit. Die Patientinnen wurden im Rahmen von Phase-I/II-Studien behandelt, die von den Unternehmen CRISPR Therapeutics (mitgegründet von der Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier) und Vertex Pharmaceuticals durchgeführt wurden.
Die Patientin mit der schweren β-Thalassämie war 19 Jahre alt. Sie hatte in den zwei Jahren vor der Behandlung durchschnittlich 34 Erythrozytenkonzentrate pro Jahr erhalten. Zu ihren Vorerkrankungen zählten eine inaktive Hepatitis C, Eisenüberladung, Splenomegalie und Osteonekrose im Bereich des Schädels. Daten zur Nachbeobachtung lagen bis 18 Monate nach der Behandlung mit CTX001 vor. Die Konzentration des fetalen Hämoglobins stieg von einem Ausgangswert von 0,3 g/dl nach der Infusion von CTX001 auf 8,4 g/dl nach 3 Monaten, 12,4 g/dl nach 12 Monaten und 13,1 g/dl nach 18 Monaten. Ihre letzte Erythrozyten-Transfusion benötigte die Patientin 30 Tage nach Transfusion von CTX001.
Die Patientin mit der Sichelzellkrankheit war 33 Jahre alt. In den 2 Jahren vor der Behandlung waren bei ihr durchschnittlich 7 schwere vasookklusive Krisen pro Jahr aufgetreten, sie wurde 3,5-mal hospitalisiert und erhielt 5 Erythrozytentransfusionen. Daten zur Nachbeobachtung lagen bis 15 Monate nach der Behandlung mit CTX001 vor. Das fetale Hämoglobin lag zu Beginn der Behandlung bei 9,1% und das Sichelzell-Hämoglobin bei 74,1%. 15 Monate nach der Behandlung mit CTX001 lag das fetale Hämoglobin bei 43,2% und das Sichelzell-Hämoglobin bei 52,3%. Ihr Hämoglobin-Wert stieg von anfangs 7,2 g/dl auf 10,1 g/dl nach 3 Monaten und auf 12 g/dl nach 15 Monaten. Die Patientin erhielt ihre letzte Erythrozyten-Transfusion 19 Tage nach der Transfusion von CTX001. Es traten keine vasookklusiven Krisen mehr auf.
Bei beiden Patientinnen traten schwere unerwünschte Ereignisse auf, die im Zusammenhang mit der Myeloablation durch Busulfan standen, darunter Pneumonie und Sepsis während der Neutropenie. In der Diskussion der Publikation berichten die Autoren kurz über 8 weitere Patienten, die mit dieser Methode behandelt und über mindestens ein Jahr nachbeobachtet wurden. Bei ihnen zeigten sich hinsichtlich der klinischen Wirksamkeit ähnlich günstige Ergebnisse. Ein Patient entwickelte eine Reihe von Nebenwirkungen, darunter ein „Acute Respiratory Distress“ (ARDS) Syndrome.
Methode 2: Gen-Silencing. Im Unterschied zum Geneditieren wird beim Gen-Silencing die genetische Information in den Zellen des Patienten nicht ergänzt oder verändert, sondern es wird mit molekularen Methoden versucht, das Expressionsniveau eines oder mehrerer Gene zu reduzieren. Zur Behandlung der Sichelzellkrankheit wurde ein Verfahren verwendet, bei dem eine „short-hairpin RNA“ (shRNA) durch das BCH-BB694-Lentivirus als Vektor in die hämatopoetischen Stammzellen eingeführt wird (3). Die shRNA löst dann in einem als RNA-Interferenz genannten Prozess den Abbau des Transkriptionsfaktors BCL11A aus. Der virale Vektor kann nicht replizieren.
Die monozentrisch durchgeführte Pilotstudie der Phase I wurde von den National Institutes of Health finanziert, eine Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums. Beteiligt war der pharmazeutische Unternehmer (pU) Bluebird Bio, der auch die Zulassung von Zynteglo® hält.
Beschrieben wird die Behandlung von 6 Patienten im Alter von 7-25 Jahren mit einer schweren Sichelzellkrankheit, die bei 3 Patienten zu einem Schlaganfall, bei 2 Patienten zu häufigen vasookklusiven Krisen und bei einem Patienten wiederholt zu Priapismus geführt hatte. Die mediane Nachbeobachtungszeit nach der Behandlung betrug 18 Monate. In diesem Zeitraum kam es bei keinem Patienten zu vasookklusiven Krisen, akutem Thoraxsyndrom oder Schlaganfall. Nur der Patient mit dem Priapismus musste ca. 4 Monate nach der Therapie deswegen zweimal erneut stationär aufgenommen werden. Nach der Behandlung lagen die Hämoglobinwerte bei 5 Patienten, die keine Transfusionen mehr erhalten hatten, zwischen 9,3 und 11,4 g/dl; bei dem verbleibenden Patienten waren weniger Transfusionen erforderlich. Im Labor zeigte sich bei allen Patienten eine stabile Induktion von HbF, das im Median bei 30,5% lag. Die Hämolyse verminderte sich.
Im Rahmen der Therapie trat bei einer Patientin eine Lungenembolie auf, möglicherweise begünstigt durch eine Hormonbehandlung zur Erhaltung der Fertilität. Ein weiterer Patient erkrankte 2 Wochen nach der Stammzelltransfusion während eines schweren respiratorischen Infekts an einem Typ-1-Diabetes. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus wurde ein anderer Patient wegen einer fieberhaften Influenza-Infektion erneut kurzzeitig stationär aufgenommen.
In zwei Editorials wird auch auf mögliche Risiken der Methoden hingewiesen (4, 5). Die langfristigen Konsequenzen einer Insertion von Lentiviren sind nicht bekannt. Aktuell gibt der pU Bluebird Bio bekannt, dass zwei klinische Studien zur Gentherapie der Sichelzellkrankheit gestoppt wurden, nachdem ein Patient an einer akuten myeloischen Leukämie erkrankt ist (6). Der kausale Zusammenhang wird geprüft. Auch die oben beschriebene Studie zum Gen-Silencing bei Sichelzellkrankheit ist ausgesetzt (7). Der Vertrieb von Zynteglo®, das ebenfalls Lentiviren als Vektor nutzt, wurde vorerst eingestellt.
Bei der CRISPR/Cas9-Methode muss die Zelle die beiden Enden des DNA-Strangs wieder korrekt ergänzen und zusammenfügen, nachdem ein Genabschnitt herausgeschnitten wurde. Die Aktivierung von Reparaturmechanismen könnte zu einer Selektion hämatopoetischer Vorläuferzellen führen, die besonders gut proliferieren, und somit zu einer klonalen Hämatopoese. CRISPR/Cas9 findet sein Ziel mit hoher Präzision. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es trotzdem in seltenen Fällen auch danebengreift. Die Folge könnten DNA-Brüche an unerwünschter Stelle im Erbgut des Patienten mit unvorhersehbaren Folgen sein (8).
Bei beiden Methoden bestehen außerdem die Risiken der autologen Stammzelltransplantation nach myeloablativer Chemotherapie, darunter teils lebensbedrohliche infektiöse Komplikationen und Neoplasien. Schließlich ist wenig über die Funktion von BCL11A in hämatopoetischen Vorläuferzellen bekannt, außer dass es die Bildung des fetalen Hämoglobins unterdrückt. Vorklinische Studien hätten aber keinen Anlass zur Besorgnis gegeben (2).
Die Kosten der neuen Gentherapien sind noch nicht bekannt. Ein Anhalt für die Größenordnung ergibt sich möglicherweise aus den Jahrestherapiekosten für das bereits zugelassene Betibeglogene autotemcel (Zynteglo®), die pro Patient 1.874.250 € betragen (9). Die hohen Kosten sind ein Grund, warum das „National Institute for Health and Care Excellence“ (NICE) den Einsatz von Zynteglo® in Großbritannien nicht empfiehlt (10).
Fazit: Erste Ergebnisse aus frühen klinischen Studien bei Patienten mit β-Thalassämie und Sichelzellkrankheit zeigen, dass durch eine Gentherapie mit CRISPR/Cas9 oder Gen-Silencing die Produktion von fetalem Hämoglobin induziert werden kann. Beide Methoden waren bei den wenigen Patienten, über die berichtet wurde, ähnlich effektiv; die Symptome der Krankheiten besserten sich deutlich. Risiken der Gentherapien müssen in länger dauernden Studien mit mehr Patienten untersucht werden. Vielen betroffenen Patienten, beispielsweise in afrikanischen Ländern, werden diese Gentherapien in absehbarer Zeit nicht zur Verfügung stehen.
Literatur
- Frangoul, H., et al.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 252. Link zur Quelle
- Kirschner, J., und Cathomen, T.: Dtsch. Arztebl. Int. 2020, 117, 878. Link zur Quelle
- Esrick, E., et al.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 205. Link zur Quelle
- Walters, M.C.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 284. Link zur Quelle
- Malech, H.L.: N. Engl. J. Med. 2021, 384, 286. Link zur Quelle
- https://investor.bluebirdbio.com/news-releases/ news-release-details/bluebird-bio-announces- temporary-suspension-phase-12-and-phase-3 Link zur Quelle
- https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03282656 Link zur Quelle
- https://www.mpg.de/11033456/crispr-cas9-therapien Link zur Quelle
- https://www.g-ba.de/downloads/39-261-4586/ 2020-12-03_AM-RL-XII_Betibeglogene- autotemcel_D-497_BAnz.pdf Link zur Quelle
- https://www.nice.org.uk/guidance/GID-TA10334/documents/129 Link zur Quelle