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Leserbrief: Methylphenidat (Medikinet, Ritalin) – Zwei Sichtweisen

Dr. G.Z. aus Stuttgart schreibt zu unserer Kleinen Mitteilung über Versuche mit Methylphenidat bei Ratten (AMB 2001, 35, 31): >>… Die von Ihnen zitierte Arbeit ist an entscheidenden Stellen sehr kritisch zu bewerten:
1. Die verwendete Methylphenidat-Dosierung war 2-7fach höher als die empfohlene Dosis im Humanbereich …
2. Es gibt kein tierexperimentelles Paradigma für Hyperaktivität …
3. Der Vergleich der Applikation einer Substanz an gesunden Tieren mit der Wirkung auf einen kranken Humanorganismus ist unmöglich …
4. Es ist falsch, daß es keine ausreichende Langzeiterfahrungen mit Methylphenidat gibt. Weltweit wurden seit Jahrzehnten Kinder durch die Pubertät hindurch ohne klinische Probleme mit Methylphenidat behandelt.
5. Jeder Arzt wird sorgfältig abwägen, ob er Kinder mit Methylphenidat behandelt. Alleine die Regularien der BTM-Verordnung zwingen dazu.
6. Die Nicht-Behandlung des hyperkinetischen Syndroms (ADS/ADHS) führt zu einer dramatischen Zahl psychiatrischer Störungen, zu sozialer Ausgrenzung und massiven Folgeproblemen …
Es ist daher ethisch unverantwortlich, Risiken mit der Gefahr einer Unterversorgung zu imaginieren, auf der Basis von 5 Ratten …<< Antwort: >> Ein Leser hat uns auf das zitierte Experiment hingewiesen, um seine Bedenken vor dem unkritischen Umgang mit Methylphenidat zu unterstreichen. In der Therapie mit Methylphenidat gibt es in der Tat sehr viele kritische Punkte. Die Verordnungshäufigkeit hat in den vergangenen Jahren explosionsartig zugenommen. Mit erheblichen regionalen Unterschieden fand zwischen 1993 und 2000 eine Steigerung um den Faktor 13,6 statt. Allein im Jahre 2000 verdoppelten sich die Verordnungen im Vergleich zum Vorjahr (1). In Berlin gibt es mittlerweile Schulklassen, in denen bis zu 6 Kinder Ritalin einnehmen. Das Medikament wird teilweise sogar auf Schulhöfen „gedealt“.

Sie bemängeln mit guten Gründen eine Unterversorgung der Kranken. Wir warnen mit guten Gründen vor einer „Überversorgung“ bzw. vor nicht fachgerechter Verordnung und Anwendung. Es gibt z.B. Kinder, die ohne wissenschaftliche Grundlage mit deutlich höheren Dosen als 1 mg/kg behandelt werden (sog. Hochdosis-Therapie). Viele Rezepte werden zudem offenbar gar nicht von Spezialisten, sondern von Hausärzten und Fachärzten aller Richtungen ausgeschrieben (1). Wer kontrolliert, ob sich alle verordnenden Ärzte an die Leitlinien der Fachgesellschaften halten?

Es gibt leider bislang keine systematische Auswertung der Ritalin- und Medikinet- Verordnungen, obwohl dies leicht zu bewerkstelligen wäre (BTM-Rezepte). Ebenso notwendig sind zuverlässige Daten über die Inzidenz von ordnungsgemäß diagnostiziertem ADS/ADHS. Erst mit diesen Daten könnte über eine mögliche Unterversorgung diskutiert werden.

In unserer Übersicht zur Methylphenidat-Therapie (AMB 2001, 35, 12) haben wir eindeutig Stellung für die Substanz bezogen. Wenn die Indikation stimmt und wenn die Richtlinien der Fachgesellschaften eingehalten werden, ist es Mittel der ersten Wahl bei hyperkinetischen Störungen. Da es aber keine systematischen Auswertungen der Langzeittherapie gibt, müssen angesichts der enormen Zunahme der Verordnungen auch Warnungen vor nicht indikationsgerechtem Einsatz und möglichen Folgeschäden ernst genommen werden. Daher ist es nach unserer Ansicht erlaubt – mit den gemachten Einschränkungen – auch über toxikologische Studien an Versuchstieren zu berichten. << Literatur

1. Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom 24.10.2001: www.bmgesundheit.de/themen/drogen/pm/241001.htm)