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„Brücken bauen – von der Evidenz zum Patientenwohl“

Zwischen der wissenschaftlichen Evidenz und den individuellen medizinischen oder gesellschaftspolitischen Entscheidungen klafft oft eine große Lücke. Die Annahme, dass wissenschaftlich Belegtes auch in den Alltag umgesetzt wird, ist leider häufig nicht der Fall. Das gilt ebenso wie für andere Wissenschaften auch für die Medizin. Politische Entscheidungen in einer Demokratie basieren fast immer auf einem Ausgleich der verschiedenen Interessen. Die Wissenschaft ist dabei nur eine von vielen Stimmen im Chor der Berater von Politikern. Interessenvertreter aus vielen Bereichen (Lobbyisten) erheben ihre Stimme in diesem Chor und verstehen es leider oft sehr viel besser als Wissenschaftler, Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei können Fakten und die Vernunft schon manchmal ins Hintertreffen geraten. Man denke nur an die Leugnung des Klimawandels oder die jüngsten Entscheidungen des österreichischen Parlaments gegen das Rauchverbot in Gaststätten.

Mit dem Thema, wie die Qualität von Forschung verbessert und die Kluft zwischen wissenschaftlicher Evidenz und der Gesundheitsversorgung überbrückt werden kann, beschäftigte sich im März 2018 die 19. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) in Graz unter dem Motto: „Brücken bauen – von der Evidenz zum Patientenwohl“ (1).

Ein Schwerpunkt dieser Jahrestagung des DNeBM widmete sich Situationen, in denen die Evidenzlage für eine sichere individuelle Entscheidung häufig dünn ist, also Unsicherheit besteht, und doch täglich praktische diagnostische und therapeutische individuelle Entscheidungen getroffen werden müssen (2). In seiner „key note lecture“ beklagte der australische Allgemeinmediziner Paul Glasziou den hohen Anteil nutzloser Forschung: 85% der medizinischen Forschung seien verschwendet („waste science“; vgl. 3). Jedes Jahr würden > 100 Mrd. US$ für nutzlose Forschung verschwendet. Zum einen, weil die Qualität der Studien mangelhaft ist (irrelevante Fragestellungen; mangelhaftes Studiendesign; ineffektive Studiendurchführung; unbrauchbare Datenanalysen; verzerrte Darstellung von Studienergebnissen) und zum anderen, weil die Studienergebnisse erst gar nicht publiziert werden (vgl. 11). Glasziou forderte daher ein konsequentes Veröffentlichen auch der „negativen“ Studienergebnisse und ein stärkeres Einbeziehen von Methodikern in die Studienplanung und -durchführung. Zudem sollte jeder Studie eine Analyse des zu diesem Thema vorhandenen Wissens vorausgehen („what is already known“), um unnötige Doppelarbeiten zu vermeiden.

Am Beispiel mehrerer nicht-medikamentöser Interventionen, z.B. aus dem Bereich der Physiotherapie (Flexionen bei Plantarfasziitis), zeigte Glasziou, wie schlecht diese Maßnahmen oft untersucht wurden und wie unzureichend sie in den Veröffentlichungen beschrieben werden. Bei nicht einmal der Hälfte der untersuchten Interventionen konnte die Frage „Könnten sie die Therapie morgen bei ihren Patienten anwenden?“ von den Lesern mit „ja“ beantwortet werden. Glasziou stellte eine frei zugängliche Datenbank mit dem Akronym HANDI (HAndbook of Non Drug Interventions) vor, in der viele nicht-medikamentöse Interventionen nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewertet werden (4).

Sehr skeptisch werden von den EbM-Expert(inn)en die Entwicklung im Bereich „Big Data“ und Slogans wie: „By now, it’s almost old news: big data will transform medicine“ (5; vgl. 6) gesehen. Die Idee, möglichst alle Behandlungs- und Patientendaten aus der sog. „Real World“ bis auf die molekulare Ebene vollständig zu erfassen, um diese dann mit Großrechnern zu analysieren, wird von vielen Medizinern inzwischen als wissenschaftlicher Irrweg angesehen. Mit dieser Methode ließen sich allenfalls Assoziationen darstellen und Hypothesen generieren, jedoch nicht wissenschaftliche Beweise führen. Der Mathematiker Gerd Antes, wissenschaftlicher Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung in Freiburg, warnt schon lange vor einer Abkehr vom Goldstandard der randomisierten kontrollierten Studien (7). Allein das Experiment kann eine These belegen oder falsifizieren.

Im Zusammenhang mit der Diskussion um „Big Data“ wurde wiederholt auch auf die Gefahr hingewiesen, dass ethische Grundprinzipien bei Forschung mit Patientendaten nicht eingehalten werden. Auch für Big Data müssen die Regeln der „Good Scientific Practice“ gelten. Patienten sollten auch bei dieser Art von Forschung mitwirken, beispielsweise dadurch, dass sie an den Fragestellungen und der Auswahl der Endpunkte beteiligt werden und selbstverständlich zuvor in die Analyse ihrer Daten einwilligen (6).

Exemplarisch für solch ein besonders gelungenes Experiment erhielt Dr. Felix Hüttner von der chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg den diesjährigen David-Sackett-Preis des DNEbM. Hüttner et al. wiesen in einer sorgfältig geplanten und durchgeführten randomisierten kontrollierten Studie (ChroPac-Studie) nach, dass bei chronischer Pankreatitis die partielle Pankreatoduodenektomie (Whipple-OP) gleichwertig zur Duodenum-erhaltenden Pankreaskopfresektion nach Beger ist. Eine langjährige Diskussion wurde aufgrund der Ergebnisse dieser Studie beendet und dadurch eine klinisch relevante Frage beantwortet (8).

Auf welchem Weg sich die biomedizinische Forschung mittlerweile befindet, zeigte die Psychologin Susan Michie aus London. Sie stellte das „Human Behaviour Change Project“ vor (9). Darin versuchen „Verhaltens-, Computer- und Systemarchitekten“ mit Hilfe von „künstlicher Intelligenz“ das menschliche Verhalten zu beeinflussen. Ausgangspunkt dieses Projekts ist die Annahme, dass viele der globalen Bedrohungen nur noch durch radikale Verhaltensänderungen gemeistert werden können. Da die wissenschaftliche Literatur über Verhaltensänderungen jedoch sehr umfangreich und verstreut ist, erfolgt die Sammlung und Analyse der Forschungsergebnisse automatisiert mit Großrechnern. Mit künstlicher Intelligenz sollen effektive, das Verhalten modifizierende Maßnahmen erkannt und auch in die Praxis umgesetzt werden: „What works, compared with what, how well, for whom, in what settings, for what behaviours and why?“. Ziel ist letztlich, Menschen gezielt durch Maschinen anzusprechen und zu beeinflussen, um ihr Verhalten zu ändern. Ob sich hierdurch tatsächlich der Anteil der Raucher reduzieren lässt oder ob diese Entwicklung nicht eher eine grundsätzliche Bedrohung für freie Gesellschaften ist, blieb in der Diskussion allerdings offen und bedarf weiterer Forschung.

Wie man Brücken baut von der Evidenz zum Patientenwohl, das war der zweite Pfeiler des Kongresses. Bei der Implementierung von Evidenz spielen die Patienten eine immer größere Rolle. Sie werden einerseits immer häufiger – auch in Behandlungsleitlinien – in die Entscheidungen einbezogen (partizipative Entscheidungsfindung) und andererseits durch die vielen neuen Medien sehr stark angesprochen und nicht selten auch manipuliert.

Unter dem Begriff „E-Health literacy“ wird die Nutzung von neuen interaktiven Technologien zur Verbesserung der eigenen Gesundheit und des Gesundheitswesens verstanden (10). E-Health literacy erfordert jedoch verschiedene Kompetenzen, wie beispielsweise das Auffinden von geeigneten Gesundheitsinformationen in elektronischen Quellen und das Verstehen sowie richtige Bewerten dieser Informationen. Zu diesen Diensten zählen neben den Gesundheitsinformationen im Netz auch die vielen neuen technischen Hilfsmittel und Apps (sog. mHealth oder mobile Health). Eine neutrale Bewertung dieser Technologien, beispielsweise durch ein Gütesiegel, welches die Validität und die Neutralität der Information sowie die Datensicherheit bewertet, wurde als zwingend notwendig erachtet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung, dass es für Patienten erfreulicherweise immer mehr evidenzbasierte Informationsquellen gibt. Exemplarisch seien genannt: „www.gesundheit.gv.at“ des österreichischen Hauptverbands, „medizin-transparent.at“ vom österreichischen Cochrane-Zentrum und „gesundheitsinformation.de“ vom deutschen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.

Aber auch die Spezialisten tun sich immer schwerer, noch den Überblick darüber zu behalten, was wissenschaftlich belegt ist und was nicht, und was neutrale und was verzerrte Information ist. Der Kongress bot mit vielen Workshops wertvolle Hilfe, wie man rasch zu valider Information kommen kann. Offenbar entstehen gerade völlig neue Berufsbilder, z.B. die des medizinischen Informationsmanagers oder Wissensvermittlers.

Abgerundet wurde das umfangreiche Programm durch einen launigen „EbM-Talk“. Wolf-Dieter Ludwig, unser Mitherausgeber und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), wurde von einer renommierten österreichischen Journalistin und aktuell Geschäftsführerin von medinform in Wien, Andrea Fried, interviewt zum Thema: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“. Ludwig berichtete in diesem Talk über seinen medizinischen Lebensweg. und seine Motivation, sich im ARZNEIMITTELBRIEF und in der AkdÄ dafür einzusetzen, Wirksamkeit und Risiken von Arzneimitteln unabhängig von der Pharmaindustrie zu beurteilen. Weitere Themen des Gesprächs waren die Auswirkungen der deutlichen Zunahme – sowohl in Europa als auch in den USA – beschleunigter Zulassungsverfahren bei neuen Arzneimitteln (12, 13), die frühe Nutzenbewertung in Deutschland, die unbedingt durch eine späte Nutzenbewertung ergänzt werden sollte (14), und mögliche negative Konsequenzen der auch im ARZNEIMITTELBRIEF kürzlich diskutierten, von der Europäischen Kommission angestrebten Harmonisierung der Nutzenbewertung von Gesundheitstechnologien in der EU (15).

Dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. gebührt ausdrücklich Dank für die Durchführung dieser wichtigen Veranstaltung, und es ist ihm zu wünschen, dass zur nächsten Jahrestagung (21.-23.3.2019 in Berlin) noch mehr Teilnehmer kommen, als die gut 500, die den Weg nach Graz gefunden haben.

Literatur

  1. http://www.egms.de/de/meetings/ebm2018/ Link zur Quelle (Zugriff am 21.3.2018).
  2. http://www.ebm-kongress.de/ Link zur Quelle
  3. Glasziou, P., et al.: Lancet 2014, 383, 267. Link zur Quelle
  4. https://www.racgp.org.au/handi Link zur Quelle
  5. Obermeyer, Z., und Emanuel, E.J.: N. Engl. J. Med. 2016, 375, 1216. Link zur Quelle
  6. Cook, J.A., und Collins, G.S.: BJS 2015, 102, e93-101. Link zur Quelle
  7. Antes, G.: Dtsch. Ärztebl. 2016, 113, A-712. Link zur Quelle
  8. Diener, M.K., et al. (ChroPac = Duodenum-preserving head resection versus pancreatico-duodenectomy for chronic pancreatitis of the head): Lancet 2017, 390, 1027. Link zur Quelle
  9. http://www.ucl.ac.uk/human-behaviour-change Link zur Quelle (Zugriff am 21.3.2018)
  10. Norman, C.D., und Skinner, H.A.: J. Med. Internet Res. 2006, 8, e9. Link zur Quelle
  11. AMB 2017, 51, 64DB01. Link zur Quelle
  12. AMB 2017, 51, 16DB01. Link zur Quelle
  13. Ludwig, W.-D.: Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa. In: Arzneiverordnungs-Report 2017. Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.). Berlin: Springer-Verlag, 2017, S. 33-53.
  14. Glaeske, G., Ludwig, W.-D., Weißbach, L.: Dtsch. Ärzteblatt 2017, 114, A-2086. Link zur Quelle
  15. AMB 2018, 52, 24DB01. Link zur Quelle