Thromboembolische und hämorrhagische Komplikationen, die wichtigsten Ursachen der Morbidität und Letalität bei Patienten mit Polycythaemia vera (PV), bestimmen weitgehend den klinischen Verlauf in den ersten 10 Jahren nach Diagnose der Erkrankung. Die Richtlinien für die Behandlung der PV basieren auf verschiedenen, z.T. randomisierten Studien der „Polycythemia Vera Study Group“ (PVSG, 1). Die Auswertung dieser Studie hat gezeigt, daß sich die Therapie individuell am Alter der Patienten, begleitenden Erkrankungen (insbesondere vorausgegangene thrombohämorrhagische Komplikationen, kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankungen) sowie den Blutbildwerten orientieren und aufgrund des relativ gutartigen, langen Verlaufs der Krankheit die Patienten nur wenig belasten sollte.
Initial erfolgt bei etwa zwei Dritteln der Patienten eine Behandlung mit Aderlässen, wobei 250-500 ml Blut in 2-3tägigen Abständen entnommen und Hämatokrit-Werte zwischen 40% und 45% angestrebt werden. Bei älteren Patienten mit begleitenden kardiovaskulären oder pulmonalen Erkrankungen sollte die Reduktion des Blutvolumens langsamer erfolgen (z.B. 2 Aderlässe à 250 ml/ Woche).
Als Therapieindikationen für eine myelosuppressive Therapie gelten heute eine nicht durchführbare (z. B. schlechte Venenverhältnisse, alte Patienten) oder nicht ausreichend wirksame Aderlaßbehandlung (Hämatokritwerte > 45%), eine deutliche Thrombozytose (> 1000000-1500000/µl) mit Blutungs- und/oder Thrombosekomplikationen, eine erhebliche (u.U. schmerzhafte) Splenomegalie und ein starker, gegenüber Histamin-Antagonisten refraktärer Pruritus. Für die myelosuppressive Behandlung stehen verschiedene Zytostatika (Hydroxyurea, Busulfan, Pipobroman), radioaktiver Phosphor (32P) und lnterferon-alfa zur Verfügung (vgl. AMB 1986, 20, 47; 1987, 21, 63; 1991, 25, 20). Wie bei anderen chronischen myeloproliferativen Syndromen wird heute zunächst eine myelosuppressive Therapie mit Hydroxyurea (Dosierung: 30 mg/kg/d per os für eine Woche, dann 15-20 mg/kg/d; zusätzliche Aderlaßbehandlung bei Hämatokrit-Werten > 47%) empfohlen. Die Vorteile von Hydroxyurea gegenüber z.B. Busulfan sind die gute Steuerbarkeit der Myelosuppression und das vermutlich geringere leukämo- bzw. mutagene Risiko dieser Substanz. Das in Deutschland nicht zugelassene Zytostatikum Pipobroman (Vercite) wurde insbesondere in Frankreich in verschiedenen Studien für die Behandlung der PV eingesetzt und die Langzeitergebnisse mit denen nach Gabe von Hydroxyurea bzw. 32P verglichen (2-4). In einer dieser Studien wurden zwischen 1980 und 1991 96 Patienten mit gesicherter PV randomisiert mit Hydroxyurea oder Pipobroman behandelt (2). Beide Zytostatika waren gut wirksam hinsichtlich des Erreichens einer kompletten Remission der PV. Während der Erhaltungstherapie mit Pipobroman kam es jedoch häufiger zu gastrointestinalen Nebenwirkungen, die u.U. ein Umsetzen der myelosuppressiven Therapie erforderlich machten. In einer weiteren Studie bei PV wurden 720 Patienten mit Pipobroman und 624 mit Hydroxyurea behandelt (3). Bei 80-100% der Patienten konnte eine komplette Remission erreicht werden, wobei interessanterweise eine Resistenz gegenüber Pipobroman auch nach > 20 Jahren Behandlung nicht beobachtet wurde. Unklar ist weiterhin, inwieweit das Risiko einer leukämogenen Transformation, das unabhängig von der Art und Dauer der Therapie etwa 5-8% bei Patienten mit PV beträgt, durch Hydroxyurea oder Pipobroman gesenkt werden kann. Wichtig für die Beantwortung dieser Frage sind die noch nicht vorliegenden Auswertungen einer weiteren französischen Studie, in der die lnzidenz von akuten Leukämien, Karzinomen und Myelofibrose bei Patienten mit PV nach Therapie mit 32P und verschiedenen Chemotherapeutika analysiert wurde (4). Aufgrund der begrenzten Erfahrungen mit Pipobroman und fehlenden Zulassung dieser Substanz in Deutschland würden wir bei Patienten mit PV und Resistenz gegenüber Hydroxyurea zunächst einen Therapieversuch mit Busulfan oder lnterferon alfa empfehlen. Bei Patienten mit Thrombozytose trotz myelosuppressiver Therapie und wiederholten Thrombosen kommen zusätzliche Medikamente wie Azetylsalizylsäure (100 mg/d) und Anagrelid in Betracht. Eine Splenektomie, die allerdings wie alle größeren operativen Eingriffe bei PV-Patienten mit hoher Morbidität und Letalität verbunden ist, sollte nur bei therapierefraktärer und symptomatischer Splenomegalie oder sekundärer Panzytopenie mit Myelofibrose und Splenomegalie erwogen werden.
Literatur
1. Berk, P.-D., et al.: Semin. Hematol. 1986, 23, 132.
2. Najean, Y: Presse Med. 1992, 21, 1753.
3. Boivin, P.: Nouv. Rev. Fr. Hematol. 1993, 35, 491.
4. Najean, Y., et al.: Leuk. Lymphoma 1996, im Druck.