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Grenzen der Intensivbehandlung

Zusammenfassung: Die Entscheidung über Beginn oder Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen in der lntensivmedizin ist ein Sonderfall therapeutischer Entscheidungen. Auch hier geht es immer darum, die bestmögliche Hilfe im Sinne des Patienten zur Verfügung zu stellen. Dies ist für Schwerkranke eine andere Situation als für Sterbende. Solche Entscheidungen kann der Arzt nicht nur gemäß der Prognose, der technischen Möglichkeiten oder der Finanzierbarkeit treffen, sondern er wird tätig oder verzichtet auf Maßnahmen nach dem Wunsch und dem Willen des Patienten. Die Entscheidung über die bestmögliche Hilfe muß eine gemeinsame, abgestimmte Entscheidung sein. Nur durch eine gute Dokumentation wird sie ohne Probleme umgesetzt werden können und nachvollziehbar sein.

In den letzten Monaten gab es mehrere Meinungsäußerungen zu diesem Thema, z.B. in der Zeitschrift für Medizinische Ethik, in Der Spiegel und im Deutschen Ärzteblatt (1-3). Bei dieser Problematik geht es auch immer um die Grenzen der Arzneimitteltherapie. lntensivtherapie ist ein wichtiger Sonderfall. Therapien werden auf verschiedenen lntensitätsstufen betrieben. Jede dieser Stufen hat ihre Indikationen und ihre Grenzen, z.B. Reanimation, Behandlung auf lntensivtherapie-Stationen mit Dialyse und Beatmung, Behandlung in einem Krankenhaus mit speziellen therapeutischen Möglichkeiten, Behandlung in der Praxis des niedergelassenen Arztes mit ihren therapeutischen Möglichkeiten, schließlich die Palliativmedizin, bei der es nicht mehr das primäre Ziel ist, die Krankheiten des Patienten zu heilen, sondern seine Beschwerden zu lindern.

Die Entscheidung, auf welcher Stufe eine Therapie durchgeführt werden soll, ist nicht rein ärztlich zu treffen. Es geht nämlich nicht allein um das medizinisch Sinnvolle oder Machbare, sondern es muß ganz wesentlich auch der Wille oder der mutmaßliche Wille des Patienten mitberücksichtigt werden. In die Entscheidung muß z.B. eingehen, wieviel dem Betroffenen eine Woche, ein Monat, ein Jahr oder mehrere Jahre Lebensverlängerung wert sind und wie er für sich „Lebensqualität“ definiert, speziell bei vielleicht schon sehr begrenzten Lebensmöglichkeiten in höherem Alter oder bei chronischen Erkrankungen. Gespräche, Rückkopplungen sind während des gesamten Entscheidungsprozesses nötig, bis schließlich das geschehen kann, was der Arzt zu verantworten hat.

Häufig müssen – auch bei bereits laufender Behandlung – Entscheidungen darüber getroffen werden, wie diese Therapie der jeweiligen Situation angepaßt werden kann. Es lohnt sich, die Struktur solcher Entscheidungen zu durchleuchten. Dabei stellen sich wichtige Fragen: Wie wird entschieden? Welche Komponenten gehen in die Entscheidung ein? Wer entscheidet? Wie wird dokumentiert? (4-11,17)

In der Abb. 1 werden Diagnose, Prognose und therapeutische Möglichkeiten als Basis beschrieben, auf der sich der Rat des Arztes gründet. Wichtigster Bestandteil des Konzeptes ist jedoch der Wille des Patienten und natürlich die Verfügbarkeit der Mittel. Die zentrale Bedeutung des Abstimmens mit allen Betroffenen, des Zuhörens und Beratens wird allgemein zu wenig beachtet und in seiner ethischen Bedeutung unterschätzt.

Zunächst zu den rein medizinischen Komponenten der Entscheidung: Natürlich ist eine präzise Diagnostik die Basis der Therapie. Aber Diagnostik und Therapie sind nicht direkt mit einer logischen Kausalkette verbunden, sondern beide werden von der Prognose beeinflußt. Zum Beispiel muß im Endstadium einer Krebserkrankung nicht jede Metastase diagnostiziert werden, weil dies oft keine aktive therapeutische Konsequenz hat. In der Frühphase andererseits ist der Nachweis einer isolierten Metastase für das therapeutische Vorgehen durchaus wesentlich. Bei einem sehr alten Patienten mit terminaler Herzinsuffizienz steht eine Herztransplantation nicht zur Diskussion. Ein Schwerkranker braucht oft den vollen Einsatz der Apparate, ein Sterbender hingegen den Mantel der Fürsorge (Palliativmedizin; Palhum = Mantel). Die Prognose beeinflußt also in sehr vielfältiger Weise Diagnostik und Therapie.

Prognostische Einschätzung gehört also zu den zentralen ärztlichen Aufgaben. Prognosen interessieren die Patienten oft mehr als Diagnosen. Wir beherrschen die Prognostik zu unvollkommen. Wenn wir sie beherrschten, könnten vielen Patienten leidvolle Tage erspart werden. In vielen Teilgebieten der Medizin sind auf der Basis sicherer Prognostik in speziellen Situationen Grenzen festgelegt. Die Grenzen der lntensivmedizin sind z.B. erreicht bei Patienten mit therapierefraktären metastasierenden Tumorleiden, terminalen Infektionen bei AIDS, bei vielen stationär pflegebedürftigen, dementen Patienten, bei intrazerebralen Blutungen mit Ventrikeleinbruch im höheren Lebensalter; bei anhaltender Verschlechterung trotz aller intensiver Bemühungen, bei länger als fünf Tage anhaltender Bewußtlosigkeit nach Reanimation älterer Patienten.

Übrigens ist die Prognostik so alt wie die moderne Medizin. Hippokrates hat vor fast 2500 Jahren ein Buch geschrieben: Prognosticon. Darin sagt er: „Es ist das Beste, wenn ein Arzt sich in der Prognose übt. Die Therapie wird er am richtigsten vornehmen, wenn er aus dem gegenwärtigen Stand der Krankheit deren künftigen Verlauf vorhersagt.“ Damit wurde Hippokrates der Begründer der modernen Medizin. Bis dahin wurde die Prognose aus dem Weg des Rauches von Feuern, aus den Eingeweiden von Tieren, aus Wind und Wetter abgeleitet (12).

In einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 13. September 1994 wird die Zustimmung zum Therapieabbruch davon abhängig gemacht, „wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Kranke dem Tode ist. Je weniger die Wiederherstellung eines nach den allgemeinen Wertvorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.“ So weisen uns die Juristen noch einmal darauf hin, wie bedeutsam die prognostische Einschätzung für die therapeutische Entscheidung ist.

Bei der Entscheidung, welchen Rat er zu einer angemessenen Therapie geben soll, muß der Arzt in Deutschland heute (noch) nicht ans Geld denken. Keine Intensivtherapie wird abgebrochen, weil kein Geld mehr da ist. Kein Medikament, keine Transplantation muß aus Kostengründen verweigert werden. Aber wird das auch so bleiben können, wenn die Ressourcen noch knapper werden oder wenn die Fallkostenpauschalen die schweren postoperativen Komplikationen, die Intensivtherapie, die Beatmung und die Dialyse mitfinanzieren müssen? Was darf ein zusätzliches Lebensjahr kosten? Noch ist der Preis offiziell kein Argument bei gesicherter Indikation für eine Therapie, aber der Arzt muß sich unbedingt der materiellen Konsequenzen seines Tuns bewußt sein. Das lernt er allerdings nicht während des Studiums, sondern im Krankenhaus und in der Praxis, wo er an ein Budget gebunden ist. Nur das, was wirklich nötig ist, kann verordnet werden. Darüber aber kann der Arzt nicht allein entscheiden.

Wie aber bringt sich der Betroffene, der Patient, in die Entscheidung ein? Kann er sich überhaupt einbringen? Will er sich überhaupt einbringen? In einer Umfrage haben sich Dialysepatienten ganz überwiegend dafür entschieden, in einem lebensbedrohenden Notfall ihre Ärzte über das weitere Vorgehen bestimmen zu lassen, ihre Ärzte, die sie seit Jahren kennen, zu denen sie Vertrauen haben, auf deren Fürsorge sie sich auch im Notfall verlassen können (1). Für die Mehrzahl der Patienten gibt es diese Sicherheit nicht. Sie werden im Krankenhaus von verschiedenen, ihnen meist nicht bekannten Ärzten und Krankenschwestern behandelt, die zudem noch ständig wechseln, weil sie im Schichtdienst arbeiten, oder sie müssen einen Bereitschaftsarzt holen, der sie ebenfalls nicht kennt.

Häufig können die Betroffenen ihre Meinung und Wünsche nicht mehr sagen. Die Helfer sind im Notfall dann auf Informationen von Angehörigen und Pflegekräften angewiesen. In einer solchen Situation kann es eine große Hilfe sein, wenn Informationen darüber vorliegen, was zuvor alle Beteiligten über die Planung des weiteren Vorgehens beschlossen haben (5-9). Wären solche Dokumente weiter verbreitet und würden sie häufiger genutzt, könnte viel Sinnloses verhindert werden. In der Vorphase vieler Notfälle müssen viel häufiger Gespräche über die Maßnahmen geführt werden, die ergriffen werden sollen. Wenn wir uns im Vorfeld mehr um die Meinung Schwerkranker (und ihrer Angehörigen) kümmerten und sie auch dokumentierten, müßten viele Therapien im Notfall nicht guten Willens begonnen und später abgebrochen werden. Eine vom Patienten nicht gewollte lntensivtherapie ist ein ungerechtfertigter und unwürdiger Eingriff in seine Lebens- und Krankengeschichte.

Bei willensunfähigen Patienten wird ihr mutmaßlicher Wunsch durch Befragung von Angehörigen erforscht. Hat der Patient eine verbindliche Vorsorgevollmacht erteilt, die sich auf seine ärztliche Behandlung erstreckt und auf seinem Selbstbestimmungsrecht gründet, so tritt der Bevollmächtigte bei Entscheidungen zu Beginn und bei Ende der Intensivtherapie an die Stelle des Patienten. Ein „Patiententestament“ bzw. eine „Patientenverfügung“, die nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der augenblicklichen Erkrankung erstellt wurden, können für den Arzt zwar eine wichtige Entscheidungshilfe sein, sind aber nicht rechtsverbindlich (14, 15). Häufig sind Patienten beim Abfassen solcher Verfügungen auch nicht so eingehend informiert, daß sie über eine sehr komplexe medizinische Situation im vorhinein entscheiden können. Zudem ist auch zu berücksichtigen, daß ein Patient in der Zwischenzeit seinen Willen geändert haben könnte.

Wenn ein Betreuer gerichtlich eingesetzt worden ist, sind besondere Bedingungen zu beachten. Er darf einem Behandlungsabbruch nur mit einer speziellen Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes zustimmen. Der Arzt sollte sich die Genehmigung vorlegen lassen. Hat der Arzt begründete Zweifel daran, daß der Betreuer dem Wohl des Patienten entsprechend handelt, sollte er sich an das Vormundschaftsgericht wenden und unter Darlegung der Gründe die Bestellung eines anderen Betreuers anregen. Die Berliner Ärztekammer hat Thesen zum Therapieabbruch erarbeitet (16), in denen es heißt: „Dem Beschluß zum Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, für den der behandelnde Arzt die Verantwortung trägt, soll – von Notsituationen abgesehen – eine gemeinsame Beratung derjenigen Mitarbeiter vorausgehen, die den Patienten und seine Situation am besten kennen. Hierzu gehören Ärzte, Pflegekräfte und u.U. ein beratender Psychiater.“

Pflegekräfte sind – was den Erfolg der lntensivtherapie angeht – immer pessimistisch. Das hängt damit zusammen, daß eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 10% zwar jeden Einsatz lohnt, dafür aber in der Praxis neun von zehn Patienten erfolglos versorgt werden müssen. Pflegekräfte kennen die Lebensumstände, die „Lebensqualität“ und damit den mutmaßlichen Wunsch des Patienten oft besser als Ärzte, weil sie mit Patienten und Angehörigen engeren Kontakt haben. Eine Entscheidung ist ohne die Pflegekräfte schwer durchzusetzen. Pflegekräfte sind als kritische, unabhängige, erfahrene und emotional intensiv anteilnehmende Berufsgruppe zu Recht mit in die Entscheidungen einzubinden.

Aber gibt es nicht auch Bedenken gegen diese Gespräche, da sie möglicherweise Angst auslösen? Nach Erfahrungen im Berliner Humboldt-Krankenhaus sind solche Bedenken ungerechtfertigt (13). Die Patienten und ihre Angehörigen waren vielmehr dankbar, über das Problem sprechen zu können, das sie – unausgesprochen – bereits bewegte. Auch das Pflegepersonal empfand das Gespräch eher erleichternd. Vorbehalte gegen solche Gespräche fanden sich insbesondere bei Ärzten, die sich überfordert fühlten.

Wurde ein Gespräch über Indikation und Begrenzung einer Therapie, speziell einer Intensivtherapie, geführt und wurde eine Entscheidung dafür oder dagegen getroffen, muß dies dokumentiert werden. Ein solches Dokument ist eingeführt worden (13). Darin heißt es: Ich habe mich mit Herrn Dr. XY über die Risiken meiner Erkrankung und ihre Komplikationen eingehend beraten und wünsche im Falle einer bedrohlichen Komplikation
? keine Intensivtherapie
? lntensivtherapie
? keine Wiederbelebung
? Wiederbelebung.
Dieses Dokument wird von Arzt, Pflegekraft, Angehörigen und dem Patienten unterschrieben (Formulare können bei der Redaktion des AMB angefordert werden). Damit liegt eine Willensäußerung des Patienten vor, die situationsgerechter und verbindlicher ist als eine Patientenverfügung, die in großer zeitlicher und persönlicher Distanz zu den aktuellen Ereignissen abgefaßt worden ist. Ein solches Dokument wirkt also der Sprachlosigkeit und einer Tabuisierung entgegen. Pflegepersonal und Familie müssen einbezogen werden, letztlich entscheidend ist aber der Wille des Patienten. Im Notfall ist dann das medizinische Vorgehen nicht beliebig, zufällig und routinemäßig, sondern so, wie es zuvor verantwortlich beschlossen worden ist. Das Dokument kann auch das Einverständnis aller Beteiligten darüber festhalten, daß die Intensivtherapie abgebrochen wird, weil sie nicht mehr hilfreich sein kann. Das Formular wird nicht nur auf Intensivstationen, sondern auch auf anderen Krankenstationen und in Pflegeheimen verwendet.

Literatur

1. Eibach, U., und Schaefer, K.: Zeitschrift für medizinische Ethik 1997, 43, 261.
2. DeRidder, M., und Dißmann, W.: Der Spiegel 1998, Nr. 18, 202.
3. Bundesärztekammer: Deutsches Ärzteblatt 1997, 94, 1342.
4. Brody, H., et al.: N. Engl. J. Med. 1997, 336, 652.
5. Bok, S.: N. Engl. J.Med. 1976, 295, 367.
6. Miles, S.H., et al.: Ann. Int. Med. 1982, 96, 660.
7. Raffin, T.A.: JAMA 1995, 273, 738.
8. Tsevat, J., et al.: Ann. Int. Med. 1995, 122, 514.
9. Walker, R.M., et al.: Arch. Int. Med. 1995, 155, 171.
10. Opderbecke, H.W., und Weissauer, W.: Arzt und Krankenhaus 1997, 2, 34.
11. Harder, M.: Arztrecht 1991, 1, 11.
12. Hippokrates: Ausgewählte Schriften. Artemis Verlag, 2. Aufl.,1984.
13. Bach, U.: Dissertation. Freie Universität Berlin 1998.
14. Wassermann, R.: Z. ärztl. Fortbild. 1993, 87, 13.
15. Uhlenbrock, W.: Berliner Medizinethische Schriften. Humanitas Verlag. Dortmund 1996.
16. Berliner Ärzte 1996, Nr. 9, 16.
17. Gazelle, G.: N. Engl. J. Med. 1998, 338, 467

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