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Der Skandal im Thieme-Verlag

Unsere Leser kennen den ARZNEIMITTELBRIEF als unabhängig. Wir haben keine Anzeigen, brauchen also auch keine Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die redaktionelle Arbeit zu fürchten. Unsere Zeitschrift erscheint auch nicht in einem großen Verlag, der noch andere medizinische Blätter herausgibt. Wie wichtig das ist, haben wir bisher selber nicht gewusst. Was kürzlich der „Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin” (DEGAM) widerfuhr, hat uns aber die Augen geöffnet:

Die DEGAM hatte sich entschlossen, ihr wissenschaftliches Organ, die „Zeitschrift für Allgemeinmedizin” (ZFA), selbst zu finanzieren, um ihre Mitglieder objektiv und kritisch auch über Arzneimittelfragen informieren zu können. Sie zahlte dem Thieme-Verlag jährlich ein ausreichendes Fixum für dessen Leistungen. Der verzichtete dafür auf das Anzeigengeschäft in der ZFA. Genützt hat das der DEGAM am Ende nichts. Denn im selben Verlag erscheinen noch viele andere medizinische Blätter, die meisten mit Inseraten.

Von einer geplanten Serie mit „Informationen zur rationalen Arzneitherapie in der hausärztlichen Praxis” von Michael Kochen (dem DEGAM-Präsidenten selbst) und Wilhelm Niebling (ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft) erschien nur der erste Artikel. Es ging um ACE-Hemmer und Sartane. Für eine Überlegenheit der Sartane über die ACE-Hemmer gebe es keine wissenschaftlichen Belege, stand dort klipp und klar zu lesen.

Im nächsten Beitrag der Serie schrieben dieselben Autoren, dass der kostengünstigste Protonenpumpenhemmer, Omeprazol, genauso gut sei wie der teuerste, Pantoprazol, der durch massive Werbung zum Marktrenner geworden ist. Aber dieser Artikel konnte in der – anzeigenfreien – ZFA nicht mehr erscheinen. Inzwischen hatte nämlich die Firma Takeda, die Candesartan (Blopress®) herstellt, ihre Werbeinserate in anderen Zeitschriften des Thieme-Verlags zurückgezogen. Der Verlag teilte den Autoren mit, das schon gedruckte Augustheft mit dem kritischen Beitrag würde eingestampft. So geschah es. Das Augustheft erschien dann mit großer Verspätung ohne den Artikel über Protonenpumpenhemmer. Man vergaß aber, den Hinweis darauf aus dem Inhaltsverzeichnis zu entfernen. So fragten viele irritierte und interessierte Leser nach dem fehlenden Artikel. Sie erfuhren, er werde nicht erscheinen, und die Ankündigung im Inhaltsverzeichnis sei ein Versehen.

Die „Süddeutsche Zeitung” hat in ihrem Wirtschaftsteil am 19. September 2006 diese skandalöse Geschichte unter dem Titel „Vorauseilende Zensur” ausführlich geschildert (1). Auch andere Medien haben sich mittlerweile für die Affäre interessiert. Insider sagen, dass es sich keineswegs um eine Ausnahme handelt. Nur werde die Einflussnahme sonst nicht so mühelos publik wie hier durch die versehentliche Enthüllung im Inhaltsverzeichnis. (Wenn Sie vergleichbare Vorgänge kennen, informieren Sie bitte den ARZNEIMITTELBRIEF). Inzwischen hat auch der Medcom-Verlag die Veröffentlichung der kritischen Manuskripte zur rationalen Arzneitherapie in der Zeitschrift „Der Hausarzt” abgelehnt.

Da dieser Skandal beim Jubiläumssymposion des ARNEIMITTELBRIEFS (2) noch nicht bekannt war, konnte ihn Johannes Köbberling in seinem Referat „Unabhängige Arzneimittelinformation in den Medien” noch nicht erwähnen. Der Wuppertaler Internist hatte die Ärzte aufgefordert, ihre Fortbildung um der Unabhängigkeit willen selbst zu bezahlen. Das haben die Allgemeinärzte zwar getan, aber es hat ihnen in unserem „medizinisch-industriellen Komplex” mit seinen Verfilzungen nichts genützt. Jetzt will die DEGAM ihre Zeitschrift aus dem Thieme-Verlag herausnehmen. Eine außerordentliche Mitgliederversammlung soll Anfang November 2006 beschließen, wo und wie sie weiter erscheinen wird.

Literatur

  1. Bartens, W.: Süddeutsche Zeitung, 19. September 2006, Nr. 216, Seite 18.
  2. AMB 2006, 40, 71b. Link zur Quelle