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Leserbrief: Potenziell inadäquate Arzneimittel im Alter. Das PRISCUS-Projekt

Prof. Dr. M.K. aus Freiburg schreibt (Text etwas gekürzt): >> In Ihrem Referat zur PRISCUS-Liste (1, 2) wird in der Rubrik Antibiotika Nitrofurantoin mit einer Bewertung von 1,90 (potenziell inadäquat für Ältere) und der Begründung „Störung der Leber und Lungenfunktion” aufgeführt. Nitrofurantoin ist aber bei Kurzzeit-Behandlung des unkomplizierten Harnwegsinfekts (HWI) ein wichtiges Medikament, weil es im Vergleich zur Langzeitanwendung ausgesprochen risikoarm ist und neben seiner guten Wirksamkeit über viele Jahre nur relativ niedrige Resistenzraten aufweist.

So empfiehlt z.B. die evidenzbasierte und bis 2013 gültige S3-Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen” der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (3) Nitrofurantoin als eines der Mittel der Wahl, wegen Anmerkungen in der Fachinformation allerdings off-label. Auch das arznei-telegramm rät dazu, Nitrofurantoin bei Patienten mit unkompliziertem Harnwegsinfekt einzusetzen, wenn Trimethoprim nicht in Frage kommt (4). Dieselbe Empfehlung spricht das N. Engl. J. Med. in seiner jüngsten Übersicht zum Thema aus (5). Betrachtet man die im ARZNEIMITTELBRIEF referierte Empfehlung der PRISCUS-Liste, so wird Nitrofurantoin wegen ungünstigem Nutzen-Risiko-Verhältnis, insbesondere bei Langzeitgebrauch ”als potenziell inadäquat bei Älteren” eingestuft. Nun beruht die PRISCUS-Liste bekanntlich auf der US-amerikanischen Beers-Liste (6, 7). Diese Liste ist vor wenigen Wochen aktualisiert und veröffentlicht worden (8). Die aktualisierte Beers-Liste schreibt wörtlich „Avoid for long-term suppression; avoid in patients with CrCl < 60 ml/min”. Aus dieser Formulierung darf man wohl schlussfolgern, dass die kurzfristige Gabe von Nitrofurantoin nicht als inadäquat gilt.

Auf dieser Grundlage sollte die kurzzeitige Anwendung von Nitrofurantoin bei älteren Patienten mit unkompliziertem HWI (und einer Kreatininclearance > 60 ml/min) als angemessen eingestuft und in der PRISCUS-Liste eine entsprechend differenzierte Kennzeichnung vorgenommen werden. <<

Stellungnahme der PRISCUS-Redaktion (Text etwas gekürzt): >> Die PRISCUS-Liste (2) ist, wie auch im AMB ausgeführt (1), keinesfalls eine Übersetzung der Beers-Liste (6-8). Die Grundlage für die Liste ist vielmehr ein Expertenbewertungsverfahren, an dem 26 Fachleute teilnahmen. Es werden die Verhältnisse speziell für den deutschen Arzneimittelmarkt abgebildet. Zwar wurden auch diverse Negativ-Listen (u.a. auch die Beers-Liste) berücksichtigt, wesentlich war aber vor allem die Darstellung der aktuellen Datenlage. Aufgrund der Recherche-Ergebnisse erfolgte dann die Risiko-Einordnung der zu bewertenden Wirkstoffe in einem zweistufigen Konsensus-Verfahren (vgl. 1, 2).

Nitrofurantoin ist ein Mittel der ersten Wahl zur Therapie einer unkomplizierten HWI (vgl. 9). Es stellt sich jedoch die Frage, ob HWI bei älteren Patienten überhaupt als „unkompliziert” bezeichnet werden können. In der S3-Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen” (3) zeigt sich eine gewisse Inkonsistenz. HWI bei älteren Patienten werden zum einen als prinzipiell „kompliziert” bezeichnet, zum anderen finden sich aber auch Empfehlungen zur „unkomplizierten” HWI-Therapie bei älteren Patienten. In der gemeinsamen Leitlinie der Infectious Diseases Society of America und Europe wird Nitrofurantoin als eine von vier therapeutischen Alternativen der „unkomplizierten” Zystitis erwähnt (10). Eine „unkomplizierte” Zystitis liegt allerdings nur bei prämenopausalen, nicht-schwangeren Frauen ohne urologische Fehlbildungen oder Komorbiditäten vor.

Somit wird Nitrofurantoin in relevanten Leitlinien als therapeutische Option erwähnt, allerdings nur in der Kurzzeitbehandlung unkomplizierter HWI. Kritisch angemerkt werden muss allerdings, dass die Datenlage für Nitrofurantoin bei älteren Patienten äußerst dürftig ist – meist werden Studien zitiert, die mit deutlich jüngeren Patientinnen durchgeführt wurden (11, 12). Auch in der unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Urologie entstandenen Leitlinie – in der eine 5- bzw. 7-tägige Nitrofurantoin-Therapie (retardiert bzw. unretardiert) als ein Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung älterer Patienten gewertet wird – werden bei den Studienergebnissen, die ältere Patienten betreffen, eher Gyrasehemmer und Cephalosporine erwähnt (13). Hier zeigt sich das Grundproblem, das letztlich zur Entstehung der PRISCUS-Liste geführt hat: viele Wirkstoffe werden bei älteren Patienten eingesetzt, ohne dass für diese Gruppe ausreichende Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit aus klinischen Studien vorliegen. Die PRISCUS-Liste versucht nun gerade für diese vulnerable Population zusätzliche therapeutische Sicherheit zu bieten und auf mögliche Probleme aufmerksam zu machen – insbesondere bei mangelnder Evidenzlage (wie z.B. für Nitrofurantoin).

Zusammenfassend kann auch Nitrofurantoin als eine therapeutische Option bei unkompliziertem HWI bezeichnet werden. Nitrofurantoin besitzt aber, insbesondere bei Langzeitanwendung, ein hohes Risiko für Nebenwirkungen. Die von uns verwendete Formulierung, dass „insbesondere” bei Langzeitgebrauch Schäden auftreten können, sollte ausschließen, dass die Kurzzeitanwendung von Nitrofurantoin unkritisch gesehen wird. Eine ähnlich vorsichtige Formulierung findet sich auch in der Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von Nitrofurantoin durch das BfArM, in der die Kurzzeitbehandlung als „eher” unproblematisch bezeichnet wird (14).

Als Limitation aller „Listen” ist anzumerken, dass sie nur den individuellen therapeutischen Entscheidungsprozess unterstützen sollen. Aus der Methodik (Expertenkonsens) ergibt sich, dass nur eine geringe Evidenz für die Empfehlungen vorliegen kann. Falls zukünftig Ergebnisse mit höherer Evidenz vorliegen, z.B. im Rahmen randomisierter, kontrollierter Studien bei älteren Patienten, würden wir dies sehr begrüßen. Fernziel sollte sein, dass aufgrund ausreichender und eindeutiger Evidenz keinerlei Experten-Konsensus-Listen mehr notwendig sind. <<

Literatur

  1. AMB 2012, 46,25. Link zur Quelle
  2. Holt, S., et al.: Dtsch. Arztebl.Int. 2010, 107, 543. Link zur Quelle und www.priscus.net Link zur Quelle
  3. S3-Leitlinie „Brennen beimWasserlassen” der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin undFamilienmedizin (2009) Link zur Quelle
  4. arznei-telegramm 2011, 42,66.
  5. Hooton, T.M.: N. Engl.J. Med. 2012, 366, 1028. Link zur Quelle
  6. Beers, M.H.: Arch. Intern. Med. 1997, 157, 1531. Link zur Quelle
  7. Fick, D.M., et al.: Arch. Intern.Med. 2003, 163, 2716. Link zur Quelle Erratum 2004, 164,298. AMB 2005, 39, 44. Link zur Quelle
  8. The AmericanGeriatrics Society 2012 Beers Criteria Update Expert Panel: J. Am. Geriatr.Soc. 2012, 60, 616. Link zur Quelle
  9. http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/WA/Aktuell/index.html
  10. Gupta, K.: Clin. Infect. Dis. 2011, 52, e103. Link zur Quelle
  11. Goettsch, W.G., et al.: Br. J.Clin. Pharmacol. 2004, 58, 184. Link zur Quelle
  12. Gupta, K., et al.: Arch. Intern.Med. 2007, 167, 2207. Link zur Quelle
  13. http://www.awmf.org/…/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen.pdf Link zur Quelle
  14. http://www.bfarm.de/… /1_Downloads/DE/Pharmakovigilanz/stufenplverf/ nitrofurantoin.pdf Link zur Quelle