Artikel herunterladen

Gibt es Indikationen für eine Prophylaxe oder Therapie mit Selen?

Das Element Selen (Se) steht im Periodensystem der Elemente in der gleichen Gruppe VI b wie Sauerstoff und Schwefel. Mit der Aminosäure Seleno-Cystein (in der Se Schwefel vertritt) ist es Bestandteil von bisher 25 bekannten sog. Selenoproteinen. Die Erforschung der Rolle von Selenoproteinen im Stoffwechsel und bei Erkrankungen hat in den letzten 20 Jahren einen enormen Aufschwung genommen. Die bekanntesten Selenoproteine sind die Glutathionperoxidasen 1-4 und die Jodthyronin-Dejodinasen, die z.B. Thyroxin zu dem wirksameren Trijodthyronin dejodinieren. Se ist also ein lebensnotwendiges Spurenelement. Ein ausführlicher Review-Artikel über „Selenium in Human Health” ist vor einem Jahr im Lancet erschienen (1).

Wie bei vielen anderen Spurenelementen und Vitaminen gibt es unzählige Arbeiten zu der Frage, ob in unserer sich mehr und mehr vom Naturzustand entfernenden Nahrung genug Se enthalten ist. Die empfohlene Se-Zufuhr mit der Nahrung liegt bei 50-60 µg/d (2). Die wichtigsten Se-haltigen Nahrungsmittel sind Getreide und deren Produkte, Muskelfleisch und Meerestiere. Der Se-Gehalt von Getreide und Fleisch hängt vom Se-Gehalt des Bodens ab, auf dem das Getreide wächst und auf dem das Schlachtvieh weidet. Der Se-Gehalt des Bodens variiert stark, jedoch gibt es in Europa keine eindeutig auf einen Se-Mangel zurückzuführenden Erkrankungen. In China ist jedoch seit 50 Jahren in einigen Regionen eine endemisch auftretende dilatative Kardiomyopathie (Keshan-Krankheit) bekannt. Sie wird auf eine extreme Se-Armut der Ackerböden zurückgeführt und bessert sich nach Se-Einnahme (3).

Es gibt ein umfangreiches publiziertes Material zu vielen biologischen Systemen und Erkrankungen im Hinblick auf den Se-Status und die Ergebnisse einer Se-Supplementierung (Immunsystem, HIV-Infektion, Hirnfunktion, Fertilität, Schilddrüse, Intensivpflege-Patienten, kardiovaskuläres System, Krebserkrankungen, Diabetes mellitus). Zu den aufgelisteten Aspekten wird in dem Review von M.P. Rayman kritisch Stellung genommen (1).

Die Cochrane Heart Group hat kürzlich einen „Intervention Review” mit dem Thema „Selenium supplementation for the primary prevention of cardiovascular disease” veröffentlicht (4). Es wurden insgesamt 12 Studien ausgewertet, in denen Se-Supplementierung mit Plazebo oder keiner Intervention bei insgesamt 19.715 Teilnehmern verglichen wurde. Die beiden umfangreichsten Studien wurden in den USA durchgeführt, wo in mehreren Bundesstaaten das Mehl bereits mit Se angereichert wird. Weder hinsichtlich Gesamt- noch kardiovaskulärer Mortalität ergab sich ein signifikanter Effekt der Se-Einnahme. Das trifft auch zu für tödliche und nicht-tödliche kardiovaskuläre Ereignisse. Die Risk-Ratios (RR) für die erwähnten Zielpunkte bewegen sich zwischen 0,96 und 1,03 mit 95%-Konfidenzbereichen (CI), die den Wert 1,0 in allen Fällen überlappen. Es ergab sich ein vager Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus unter Se-Supplementierung (RR: 1,06; CI: 0,97-1,15; nicht signifikant), über das wir bereits 2007 berichtet haben (5). Gering signifikant häufigere UAW in den Se-Gruppen des Cochrane Reviews waren Alopezie und Dermatitis.

Letzterer Aspekt führt uns zu einem Pferdefuß der Se-Supplementierung: In dem umfangreichen US-Third National Health and Nutritional Examination Survey zu Se zeigte es sich, dass sowohl ein niedriger als auch hoher Se-Status – gemessen an der Se-Konzentration im Serum – mit erhöhter Mortalität (Beobachtungszeitraum: 18 Jahre) assoziiert ist (zit. n. 1). Die niedrigste prospektive Mortalität hatten Probanden mit Serum-Konzentrationen um 135 µg/l. Unterhalb 100 und oberhalb 170 µg/l nahm die Mortalität zu. Bekannte Zeichen einer Se-Toxizität bei Zufuhr von hohen Dosen sind Haarausfall, Brüchigkeit und Verfärbung der Nägel, periphere Neuropathien und ein knoblauchartiger Atemgeruch.

DER ARZNEIMITTELBRIEF hat mehrfach über Se-Supplementierung berichtet (5, 6, 7). In Beantwortung eines Leserbriefs haben wir uns skeptisch zur Se-Behandlung von Patient(inn)en mit der autoimmunen Hashimoto-Thyreoiditis geäußert (6). Die Gabe von 100-200 µg/d Se senkt bei den meisten dieser Patient(inn)en nicht die Antikörpertiter gegen Schilddrüsen-Peroxidase (TPO-AK), und keine bisherige Interventionsstudie mit Se erstreckt sich über mehr als ein Jahr. Es ist nicht bekannt, ob das Risiko für Entwicklung und Fortschreiten einer Hypothyreose durch Se-Einnahme vermindert wird. Auch Frauen mit erhöhten TPO-AK-Titern während einer Schwangerschaft mit Se zu behandeln mit dem Ziel, postpartale Thyreopathien zu vermeiden, sehen wir sehr kritisch und empfehlen dies nicht. Wenn aus „ideologischen” Gründen eine solche Behandlung gewünscht wird, dann sollten nicht mehr als 100 µg/d Se eingenommen werden. Mit dieser Dosis kann es kaum zu UAW kommen. Die deutschen gesetzlichen Krankenkassen übernehmen nicht die Kosten für eine Se-Prophylaxe, da es hierfür keine Evidenz-basierten Indikationen gibt. Se-Supplementierung kann erfolgen bei hochgradiger Mangelernährung und bei längerfristiger intravenöser Ernährung.

Fazit: Ein Cochrane-Review zur primären Prävention von Herz/Kreislauf-Erkrankungen ergab keinen Hinweis für die Nützlichkeit von Selenpräparaten. Außer bei hochgradiger Mangelernährung und bei künstlicher Ernährung gibt es in Deutschland keine Evidenz-basierten Indikationen für eine Prophylaxe oder Therapie mit Selenpräparaten. Bei Probanden mit bereits hoher Selenkonzentration im Serum oder bei Einnahme größerer Mengen Selen kann es zu chronischen Intoxikationen kommen.

Literatur

  1. Rayman,M.P.: Lancet 2012, 379, 1256. Link zur Quelle
  2. Rayman,M.P.: Brit. J. Nutr. 2004, 92, 557. Link zur Quelle
  3. Chen, J.:Asia Pac. J. Clin. Nutr. 2012, 21, 320. Link zur Quelle
  4. Rees, K.,et al.: Cochrane Database Syst. Rev. 2013; DOI:10.1002/14651858.CD009671.pub2. Link zur Quelle
  5. AMB 2007, 41,80. Link zur Quelle
  6. AMB 2007, 41,64. Link zur Quelle
  7. AMB 2009, 43,29a. Link zur Quelle