Die Duchennesche Muskeldystrophie (DMD) ist mit einer Prävalenz von ca. 1:5000 die häufigste die Muskulatur betreffende Erbkrankheit. Die DMD wird X-chromosomal vererbt und betrifft fast nur Jungen. Bei etwa einem Drittel der Patienten handelt es sich um Neumutationen, zwei Drittel erben die Krankheit von den nicht manifest erkrankten Müttern (Konduktorinnen). Die Betroffenen leiden unter einer Synthesestörung des Muskel-Strukturproteins Dystrophin. Durch dieses Defizit gehen Muskelfasern zugrunde und werden durch Fett- und Bindegewebe ersetzt. Die Symptome beginnen im Kleinkindalter mit Schwäche der Becken-, Oberschenkel- und Rumpfmuskulatur. Dies zeigt sich in Schwierigkeiten beim Aufrichten aus dem Sitzen oder Liegen. Die Kinder klettern am eigenen Körper empor (Gowers Manöver) und haben ein auffälliges Gangbild (Watschelgang, sog. Trendelenburg-Zeichen). Durch die Muskelschwäche wird die Mehrzahl der Kinder zwischen dem 8. und 14. Lebensjahr rollstuhlpflichtig. Sie leiden auch unter teils sehr schmerzhaften Verformungen der Gelenke und Knochen. Meist entwickelt sich eine starke Skoliose. Diese beeinträchtigt – zusammen mit der Schwäche der Atemmuskulatur – zunehmend die Atemmechanik mit der Folge rezidivierender pulmonaler Infekte und Ateminsuffizienz. Die Lebenserwartung wird mit 20-40 Jahren angegeben (1).
Die moderne Medizin trägt sehr viel zu einer höheren Lebenserwartung von Patienten mit DMD bei. Es gibt viele etablierte und einige experimentelle Therapieansätze. Mit Hilfe von Physiotherapie und regelmäßigem Training wird versucht, die Folgen der Muskelschwäche so gering wie möglich zu halten und Defizite auszugleichen. Durch operative Lösung von Kontrakturen und Korrektur von Fehlstellungen (besonders der Skoliose) können die Schmerzen gemildert und die Atemmechanik verbessert werden. Eine zu Hause stattfindende Beatmung bei Ateminsuffizienz vergrößert die Autonomie und führt zu selteneren pulmonalen Komplikationen. Bei der medikamentösen Therapie haben sich in erster Linie Glukokortikosteroide etabliert. Der genaue Wirkmechanismus ist nicht klar, möglicherweise mildern sie begleitende Entzündungsreaktionen in der Muskulatur. Nach einem Cochrane Review wird der Muskelabbau verzögert und die Fähigkeit, ohne Hilfsmittel zu gehen, um etwa 1-2 Jahre verlängert (2). Die Autoren einer Behandlungsleitlinie zu DMD empfehlen daher die Behandlung mit einem Glukokortikosteroid nachdrücklich (1). In der Praxis nehmen aber mehr als ein Drittel der Patienten keine Glukokortikosteroide ein wegen der bekannten Nebenwirkungen und/oder wegen eines fehlenden Therapieeffekts (3). Weniger evidenzbasiert, aber sehr häufig verwendet, sind Nahrungsergänzungsmittel zur Unterstützung des Muskelmetabolismus wie beispielsweise Kreatin, Vitamin D, Coenzym Q10, Magnesium, Kalzium. Verschiedene gentherapeutische Ansätze werden noch erprobt.
Ein neueres medikamentöses Therapieprinzip hat Idebenon. Bei diesem Wirkstoff handelt es sich um ein synthetisches kurzkettiges Benzochinon. Es ist Substrat des Enzyms NAD(P)H, das den mitochondrialen Elektronentransport stimuliert. Es soll die zelluläre Energieversorgung verbessern. Idebenon ist strukturell und funktionell mit Coenzym Q10 verwandt und wird auch in der Kosmetikindustrie, wo es als Salbenzusatz verwendet wird, als „Super CoQ10“ bezeichnet. Idebenon hat seit 2007 eine EU-Zulassung als Orphan drug für die Behandlung der Leberschen Optikusneuropathie. Der pharmazeutische Unternehmer Santhera, der sich auf die „Entwicklung und Kommerzialisierung” innovativer Therapien von mitochondrialen und neuromuskulären Erkrankungen spezialisiert hat (4), vertreibt Idebenon unter dem Handelsnamen Raxone®/Catena® und besitzt für die Indikation DMD in Europa einen Patentschutz bis zum Jahre 2026.
Um die Zulassung für die Indikation DMD zu erhalten, hat Santhera eine Phase-III-Studie mit Idebenon abgeschlossen, die kürzlich im Lancet publiziert wurde (5). Die Studie mit dem Akronym DELOS wurde an 17 Zentren in Europa und den USA durchgeführt. Die eingeschlossenen 64 Patienten mit genetisch gesicherter DMD waren zwischen 10 und 18 Jahre alt. 92% saßen bereits im Rollstuhl. Es ist nicht klar, warum die Autoren in der DELOS Studie nur Patienten einschlossen, die innerhalb eines Jahres vor Studienbeginn kein Glukokortikosteroid eingenommen hatten. Die Gründe, warum die Patienten kein Glukokortikosteroid einnahmen – immerhin gilt dies als Goldstandard bei DMD – werden nicht genannt. Vermutlich hatten sie Nebenwirkungen oder lehnten die Behandlung aus Angst davor ab.
Nach 1:1 Randomisierung nahmen die Patienten Idebenon (dreimal 300 mg/d; n = 32) oder Plazebo (n = 34) für 52 Wochen ein. Ziel der Studie war nachzuweisen, dass sich durch Einnahme von Idebenon die Lungenfunktion bei DMD stabilisieren lässt. Primärer Endpunkt war daher die Veränderung des alters-, geschlechts- und BMI-korrigierten expiratorischen Peakflows (PEF) in Prozent des vorhergesagten (Beginn bis 52 Wochen später; PEF%p). Sekundäre Endpunkte waren noch andere Lungenfunktionswerte, wie forcierte Vitalkapazität, FEV1, maximaler inspiratorischer Druck), aber auch klinische Parameter wie Atemwegsinfektionen.
Ergebnisse: Die beiden Studienpopulationen unterschieden sich signifikant in ihrem Durchschnittsalter zum Zeitpunkt des Studienbeginns. In der Plazebo-Gruppe waren die Patienten 1,5 Jahre älter (15 vs. 13,5 Jahre). Entsprechend unterschieden sich auch einige Lungenfunktionsparameter (PEF, FEV1, FVC u.a.), wenngleich nicht signifikant. Der Ausgangswert zur Berechnung des PEF%p war jedoch ähnlich (Plazebo 54,2% vs. Idebenon 53,5%). 94% vs. 90% saßen bereits dauerhaft im Rollstuhl.
Bei sieben Patienten (einer in der Idebenon- und sechs in der Plazebo-Gruppe, insgesamt 11%) nahm im Studienverlauf PEF%p sehr stark ab (> 20%). Sie wurden gemäß Protokoll von der Studie ausgeschlossen, vermutlich, um sie doch mit einem Glukokortikosteroid behandeln zu können. Die Effektivität wurde dann ohne diese Patienten in einer sogenannten „modifizierten“ Intention-to-treat-Analyse bewertet (n = 57). Demnach kam es in der Plazebo-Gruppe innerhalb eines Jahres zu einem durchschnittlichen Abfall der PEF%p um 9% (95%-Konfidenzintervall = CI: -13,2 bis -4,8%) und mit Idebenon um 3% (-7,08 bis 0,97). Die Differenz von 5,9% war signifikant (CI: 0,16-11,76; p = 0,044).
Klinisch wurden insgesamt 66 Atemwegsinfektionen bei 37 Patienten diagnostiziert, in der Idebenon-Gruppe 20 und in der Plazebo-Gruppe 44 Episoden (p = 0,076). Infektionen der tieferen Atemwege (Bronchitis, Pneumonie) waren in der Idebenon-Gruppe nicht signifikant seltener (5 vs. 10 Episoden; p = 0,51).
Idebenon war bis auf etwas häufigere Diarrhö (25% vs. 12%) ähnlich gut verträglich wie Plazebo. Bei einem Patient wurde Idebenon wegen eines Schlaf-Apnoe-Syndroms abgesetzt.
Mehrere Punkte schränken die Aussagekraft der DELOS-Studie ein. Wie bei allen seltenen Erkrankungen sind die Patientenzahlen sehr klein, was statistische Fehleinschätzungen begünstigt. Die angegebenen p-Werte und Vertrauensintervalle sind zwar eindeutig und konsistent, die Patientenzahl hätte aber nach Berechnungen der Autoren weit höher sein müssen (ca. 225 pro Gruppe), um einen absoluten Unterschied von 10% beim Abfall des PEF%p nachzuweisen. Dass die Patienten in der Plazebo-Gruppe 1,5 Jahre älter waren, muss bei der Bewertung des klinischen Ergebnisses unbedingt berücksichtigt werden. Außerdem ist der Ausschluss aller Patienten mit regelmäßiger Einnahme eines Glukokortikosteroids ein erheblicher Selektionsbias. Da etwa zwei Drittel der Patienten mit DMD leitlinienkonform ein Glukokortikosteroid einnehmen, kann DELOS also nur eine Aussage über eine kleinere Subgruppe machen. Das ist wichtig, weil in einer kleinen Vorläuferstudie mit dem Akronym DELPHI bei 21 Patienten ein positiver Effekt nur bei den Patienten nachgewiesen wurde, die kein Glukokortikosteroid einnahmen. Eine Verallgemeinerung des positiven Effekts von Idebenon auf die Lungenfunktion bei DMD ist also nicht möglich. Methodisch problematisch sind auch insgesamt sieben Veränderungen des Protokolls im Studienverlauf und die umfangreichen Interessenkonflikte der Autoren mit dem Studiensponsor.
Fazit: Eine kleine, methodisch problematische Studie weist darauf hin, dass das „Super CoQ10“ Idebenon bei Duchennescher Muskeldystrophie einen positiven Effekt auf die Lungenfunktion haben könnte. Diese Aussage gilt jedoch nur für Patienten ohne Behandlung mit einem Glukokortikosteroid, also für eine Minderheit, und darf nicht verallgemeinert werden. Das Dilemma der Behörden ist nun, dass sie auf Basis schwacher Daten über eine Zulassung von Idebenon als Orphan drug entscheiden müssen. Ein Meilenstein einer verbesserten Therapie ist der Wirkstoff nach unserer Einschätzung nicht.
Literatur
- Bushby,K., et al. Lancet Neurol. 2010, 9, 77. Link zur Quelle
- Manzur,A.Y., et al.: CochraneDatabase Syst. Rev. 2008 CD 003725. Link zur Quelle
- Wang, R.T., et al.: PloSCurr. 2014, 6, pii: ecurrents.md.e1e8f2be7c949f9ffe81ec6fca1cce6a. Link zur Quelle
- Website Santhera: http://www.santhera.com/ Link zur Quelle .Zugriff 23.6.2015.
- Buyse,G.M., et al. (DELOS = Idebenone in Duchenne Muscular Dystrophy): Lancet 2015, 385,1748. Link zur Quelle